Was man spielen soll Spezial: Solium Infernum

Vor ziemlich genau fünf Jahren bin ich einem Spiel schwer verfallen, dessen Designer Vic Davis sich vor kurzem traurigerweise von der Computerspielentwicklung verabschiedet hat. Grund genug, in nostalgischer Trauer das großartige Solium Infernum erneut hervorzukramen und hier einen Uralttext von mir gekürzt wieder ins Rampenlicht zu holen. Die folgende Besprechung erschien unter dem Titel "Die Hölle, das sind die anderen" am 4.2.2010 zuerst für Telepolis. Aus diesem Grund weicht dieses "Was man spielen soll" etwas von der gewohnten Form ab.

Es ist Mundpropaganda, aber auch der Diversifizierung im Spielejournalismus in unzähligen Blogs zu verdanken, dass "Solium Infernum" zwei Monate nach Veröffentlichung im November 2009 in manchen Blogs präsenter ist als je zuvor: In zahlreichen "Game-Diaries" und After Action Reports verleihen Journalisten als auch Blogger in seitenlangen Nacherzählungen einzelner Partien ihrer Faszination am Ausnahmespiel Ausdruck. Dass diese Textsorte des "Spielberichts", die in dieser Form naturgemäß im Print-Journalismus selten auftaucht, auch für Leser interessant ist, die das Spiel noch gar nicht kennen, spricht für "Solium Infernum".

Vor kurzem veröffentlichte die britische A-Liga des "New Games Journalism" ihr viel beachtetes und lesenswertes Game-Diary "Gameboys from Hell", das eine Partie aus (fast) allen verschiedenen Perspektiven zeigt - ein Lesespaß, der nicht nur Einblick in das Spiel, sondern auch und vor allem in die Psyche der Spieler erlaubt denn sehr bald nehmen Hinterlist, Täuschungen und Paranoia Überhand. Dass die geschilderten dramatischen Ereignisse kein Zufall, sondern Ergebnis cleveren Spieldesigns sind, zeigt der Selbstversuch: Wie Dwarf Fortress generiert "Solium Infernum" jedes Mal seine eigenen Fehden, Dramen und Höhepunkte - und nebenbei, in den inzwischen zahlreichen Online-Spieltagebüchern, einen viralen Effekt, der auch mit dem größten PR-Budget schwer zu erzielen ist.

Das Setting des Spiels selbst ist so frisch wie variantenreich: In der Hölle ist der Teufel verschwunden - die Gelegenheit für ambitionierte Höllenfürsten, den "unteren Thron" (lat. solium infernum) zu erobern. Rundenbasiert und auf Hexfeldern versuchen sich bis zu sechs Spieler daran, mit unterschiedlichen Strategien bis zum Spielende die meisten Prestige-Punkte zu ergattern. "Solium Infernum" ist im Grunde ein digitales modernes Brettspiel. Freunde komplexer analoger Gesellschaftsspiele wie "Die Siedler von Catan" oder "Dominion" - die international übrigens bezeichnenderweise als German-style board games bekannt sind - werden sich an diese Brettspiele erinnert sehen, doch auch beim Sammelkartensystem der Marke "Magic: The Gathering" bedient sich das Spiel. Strategen mit einem Faible für komplexe Winkelzüge finden in "Solium Infernum" ein Rahmenwerk von Regeln und Entscheidungsmöglichkeiten, das als analoges Spiel auf dem Küchentisch wegen seiner Komplexität nur schwer realisierbar wäre.

Passend zu Designerlegende Sid Meiers berühmter Definition, ein Spiel sei "eine Reihe von interessanten Entscheidungen", stellt "Solium Infernum" den Spieler laufend vor schwere Dilemmata. Während in vielen modernen Hochglanztiteln zwar technische Perfektion, aber dafür zunehmende spielerische Stagnation vorherrscht, verlässt sich das nur scheinbar simple "Solium Infernum" auf seine ausgeklügelte Spielmechanik. Die strenge Beschränkung auf zu Beginn nur zwei Aktionen pro Runde führt gemeinsam mit den unterschiedlichen Möglichkeiten, seinen Höllenfürsten strategisch auszurichten, zu politischen Winkelzügen, die jeden Macchiavellisten erfreuen. Die Hölle, das sind in "Solium Infernum" die anderen: Die ständige Ungewissheit über Pläne und Absichten der Gegner ergänzt sich mit dem Charme des unverbrauchten Settings zu einem erfrischen unkonventionellen Strategieerlebnis mit Hinterhaltsgarantie.

In "Solium Infernum" ist offene Kriegführung gegen seine Konkurrenten möglich, aber durch die barocke "Bürokratie" der Hölle formalisiert und erschwert: Man ist ständig gezwungen, seine Gegner zu provozieren, sich beleidigen zu lassen oder sie durch überzogene Forderungen zu streng begrenzten "Vendettas" zu verleiten, in deren Verlauf die grafisch liebevoll gestalteten Legionen und Einzelkämpfer zum Einsatz kommen. Gemeinsam mit der unerbittlichen Beschränkung eigener Aktionen kommt dabei doppelten und dreifachen Täuschungsmanövern gegenüber den im besten Fall menschlichen Mitspielern besondere Bedeutung zu - es ist durchaus möglich, scheinbar unerreichbaren Gegnern durch gewiefte Taktiken auch noch im Endspiel den Sieg vor der Nase wegzuschnappen. Passend zum Setting ist man höchst unterhaltsam dann auch regelmäßig damit beschäftigt, die Hinterhältigkeit seiner Mitspieler zur Hölle zu wünschen.

Die schwache AI sollte am besten nur als Sparringpartner betrachtet werden, um die komplexen Regeln kennenzulernen - mangels Tutorial kommt man ohne Lektüre des Handbuchs allerdings auf keinen grünen Zweig. Die Hauptattraktion ist zweifellos der Kampf gegen menschliche Gegner, der entweder abwechselnd vor einem PC oder via von modernen Spielen nur mehr äußerst selten verwendetem "Play by Email"-Modus stattfindet. Wenig benutzerfreundlich muss in diesertraditionsreichen Spielvariante dabei eine Spieldatei vom Spielleiter an jeden einzelnen Spieler und retour geschickt werden, doch schon allein das dadurch entstehende langsame Tempo einer Partie verleiht den wenigen Entscheidungsmöglichkeiten Gewicht und Bedeutung: Gibt man dem Ritual zum Ausspähen der unbekannten Fähigkeiten des Gegners Vorrang vor der Eroberung weiterer Gebiete? Soll man seine mühsam gesammelten Ressourcen in neue Legionen und Artefakte investieren oder doch lieber den ohnehin schon gereizten Nachbarn durch unverschämte Beleidigungen zum Duell provozieren? Die Wartezeit, bis der jeweilige Spielzug von allen Mitspielern vollendet ist, lässt sich in "Solium Infernum" hervorragend zum immer gewagter und zugleich paranoider werdenden Ränkeschmieden nutzen - ein fast vergessenes, ganz spezielles Spielgefühl, das Partien über Tage und sogar Wochen spannend werden lässt.

Ein Spiel ist unterhalb aller Oberflächen vor allem ein komplexes System von Regeln, Ausnahmen und Mechanismen.

Die Debatte, ob Computerspiele Kunst sind oder zumindest in Teilen als solche wahrgenommen werden können, hat in den letzten Jahren fast den Blick auf etwas verstellt, was den Tüftlern hinter "traditionellen", analogen Spielen allgegenwärtig geblieben ist: Ein Spiel ist unterhalb aller Oberflächen vor allem ein komplexes System von Regeln, Ausnahmen und Mechanismen, das den Spieler vor "interessante Entscheidungen" stellen soll - Entscheidungen ökonomischer, strategischer, aber durchaus auch moralischer Art. "Solium Infernum" ist in dieser Hinsicht trotz seiner im Vergleich zum Hochglanzmainstream unleugbaren Schwächen in Technik, Optik und Bedienbarkeit ein zugegeben exotischer, aber teuflisch gut gelungener Mehrspieler-Titel und ein willkommener Außenseiter weit abseits des Strategie-Einheitsbreis.

Wie das spielerisch völlig unterschiedliche Demon's Souls bricht auch "Solium Infernum" bewusst mit einigen Regeln des modernen Spiele-Mainstreams, der wegen seiner Breite und stromlinienförmigen Massentauglichkeit oft auf Experimente und auch spielerische "Härten" verzichtet. Während aber das von Kollege Matthias Huber durchaus provokant zum "ersten Must-Have-Titel" der PS3 ausgerufene "Demon's Souls" seinen Reiz aus der aus alten Spieletagen wohlbekannten Kompromisslosigkeit zieht, greift "Solium Infernum" noch weiter ins Analoge zurück - und erinnert daran, welch großer Spaß darin liegt, seine Mitmenschen nach allen Regeln der Kunst und des Spiels zu überlisten.

"Solium Infernum" ist direkt von der Entwicklerseite per Download zum Preis von 15 US-Dollar beziehbar. Die kostenlose Demo ist auf 25 Spielzüge begrenzt.

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