Postkarte von Agata: Hotel California

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Agata Góralczyk ist als Langzeitreisende in virtuellen Welten unterwegs. Einmal im Monat schickt sie uns eine Postkarte - diesmal aus Hotel Dusk: Room 215

Lieber Rainer,

glaubst Du, dass ein Hotelzimmer Wünsche erfüllen kann? Kyle, der mich per Anhalter zu diesem Hotel mitgenommen hat, hält es für völligen Bullshit. Allerdings hat sich Kyle im Verlauf dieser Geschichte auch recht schnell als ein ziemliches Ekel herausgestellt.

Für diese eine Nacht jedenfalls bin ich im "Hotel Dusk" in Zimmer 215, das angeblich Wünsche erfüllt. Das strahlende Kalifornien mit seinem hippen Leben ist gleich hinter den Bergen und dennoch könnte es ferner nicht sein. Schon an der Rezeption wird mir klar: Ich bin in einer heruntergekommenen Bruchbude gestrandet - irgendwo in der Wüste Nevadas am Jahresende 1979.

Von der morbiden Atmosphäre dieses Ortes bedrückt gehe ich schweren Schrittes die Treppe zu meinem Zimmer hoch. An der Decke über mir haben alte Wasserflecken Kreise gezeichnet. Im Zimmer angekommen fällt mir die feuchte Tapete fast entgegen. Sie blättert an allen Ecken und Enden ab. In der Wüste war alles Licht. Hier herrscht eine bedrückende Dunkelheit. Draußen auf dem Flur ist es auch nicht besser. Jeder der Hotelgäste, denen ich bald bei meinen Streifzügen durch diesen Roman begegne, wird von seinen eigenen Geistern heimgesucht. Erzählungen von Schmerz und Verlust hallen durch die verwahrlosten Gänge. Das Hotel und seine Gäste existieren scheinbar nur in ihrer verstaubten Vergangenheit.

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An den Flurwänden hängen Variationen des immer gleichen Stilllebens in Öl, im Restaurant über dem verstimmten Klavier Fotos längst verblasster Stars. Die Geschichten der Menschen hier sind getrieben und doch blutleer: Melissa wartet mit der Verzweiflung einer Zehnjährigen auf ihre Mutter, die sie vor Jahren an Weihnachten verließ. Helen hofft sich nach Jahrzehnten mit ihrem Sohn zu versöhnen. Martin sucht jemanden, dem er sein Verbrechen beichten kann, von dem ihn sein Gewissen nicht frei sprechen will. So erzählen sie mir immer wieder von ihren Tragödien, in denen sie wie in Zeitschleifen festhängen und denen sie nicht entrinnen können.

Dieses Hotel ist mit seinen Erzählungen irgendwie aus der sonstigen Zeit gefallen. Mord, Entführung, Fälschung und Erpressung kreuzen sich über Jahrzehnte ausgerechnet hier: einem Nexus ineinanderverstrickter Verbrechen. Wer - wie ich - aus Versehen hier hinein stolpert, wird zum Umherirren in den Dialogen und Geschichten einer sehr langen Nacht verdammt.

Ich weiß nicht, ob Zimmer 215 Wünsche erfüllt und ich werde es auch nicht herausfinden. Ich bin nicht wie Kyle, der angebliche Ex-Cop, der in der Vergangenheit anderer herumwühlt, um seine eigene zu korrigieren. Ich reise ab. Ich bin es müde, in den Fluren dieses Buchs planlos herumzublättern. Ich gefalle mir nicht in der Rolle einer stummen Zuhörerin, einer Statistin, vor deren Augen auf Knopfdruck Szenen abgespult werden. Wie leere Hüllen eines einstigen Lebens locken die Hotelgäste mich zu sich, um mich in das Skript ihrer Klagen zu ziehen. Menschen haben das Verlangen in all ihrer Banalität gehört zu werden. Haben fiktive Charaktere das auch?

Deine Agata

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