Offene Welten, leere Seelen

Vor ziemlich genau zwei Jahren habe ich mir anlässlich des damals erschienenen Far Cry unter dem Titel "Die Sandkiste ist zu voll" zum Thema Open World Gedanken gemacht. Jetzt, wo sich mit dem Nachfolger Far Cry 4, aber auch Dragon Age: Inquisition, Assassin's Creed Unity und natürlich GTA V die offenen Welten um Käufer matchen, erscheinen mir meine Überlegungen von damals nicht weniger relevant. Im Gegenteil: Das von der Far Cry-Reihe, aber de facto allen Ubisoft-Open-World-Titeln und zunehmend immer mehr anderen AAA-Franchises übernommene Gamedesign-Paradigma hat sich noch fester etabliert. Zugleich drängt sich ein Befund auf: Die offenen Welten, wie sie aktuell den Mainstream dominieren, sind zu vollgestopft - und leblos und leer zugleich. 

Damals schrieb ich:

Far Cry 3 ist nach den späteren Assassin's Creed-Titeln, Dead Island und Rage ein weiteres Opfer eines verhängnisvollen Trends: der Gamification der Spiele selbst... Feature Creep heißt die grassierende Manie, Spielgerüste mit optionalen Zusatzelementen so lange zu überlasten, bis selbst der aufmerksamkeitsdefizitärste Zehnjährige mit der Konzentrationsspanne eines dementen Kolibris sich wegen der absurden Überfülle an Ablenkungsangeboten nicht mehr über Leerlauf beklagen kann.

Damals bedauerte ich, dass sich eine immersive Handlung, wie sie in Far Cry 3 als Thriller durchaus angelegt war, wegen all der Ablenkungsangebote nicht entfalten kann; inzwischen scheint mir ein anderes Problem ins Zentrum zu rücken - nicht zuletzt deshalb, weil die Ambition auf das Erzählen einer solchen Geschichte schlichtweg zugunsten eines reinen Spielplatzes aufgegeben wurde. Die offene Welt als Gamedesign-Idee ist in ihrer Mainstream-Variante zur seelenlosen Pose erstarrt. Anlässlich des Starts von GTA V letztes Jahr habe ich mich  in diesem Artikel bereits einmal zweifelnd gefragt, ob das Paradigma der Open World nicht zum bloßen Fetisch verkommen würde:

Mit steigendem Aktivitätsangebot [an Beschäftigungen innerhalb der Sandbox] steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die jeweiligen Minispielchen nicht unbedingt auf eigenen Füßen stehen könnten ... Das Spiel als Hub, also als Plattform und Drehscheibe, von der aus auf unzählige andere, kleinere Spiele zugegriffen wird: ... Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang schon von einer für das Genre tödlichen "Casualisierung" des Spielerlebnisses. Ein bisschen erinnert der eingeschlagene Weg an manche Elektronikprodukte aus der nachmitternächtlichen Shopping-TV-Parallelwelt: Ein einziges Wundergerät, das Dutzende andere, nur eine einzige Aufgabe erledigende Geräte als "Universal-Alleskönner" überflüssig macht - aber, das zeigt die bittere Erfahrung, dafür nirgends an die Qualität eines einzelnen Spezialisten heranreicht.

Das Open-World-Paradigma, so muss man im Jahr von Watch_Dogs, Far Cry 4, Dragon Age: Inquisition und Assassin's Creed: Unity feststellen, erstarrt inzwischen in einer bewährten Formelhaftigkeit. Man nehme: eine offene Umgebung, in der sich der Spieler frei bewegen kann; Rollenspielsysteme, die einen bedeutenden Anteil an spielerischen Low-intensity-Aktivitäten wie Sammeln, Craften und simplem Grind begründen; ein narratives Gerüst, das sich als Ausnahme der Erzählsituation versteht, nicht als die Regel (Story-Missionen, die gestartet und beendet werden); und ein möglichst breitflächig ausgestreutes Überangebot an Missionen, Quests, Beschäftigungen - sprich: Punkten auf der Minimap, die abzugrasen und abzuhaken der ziellosen Bewegung durch die Welt einen gewissen Rhythmus verleiht.

Man könnte sagen, dass das Spielen etwa von Dragon Age: Inquisition einer gamifizierten Variante des Handelsreisenden-Problems ähnlich geworden ist.  

Die Aufgabe besteht darin, eine Reihenfolge für den Besuch mehrerer Orte so zu wählen, dass die gesamte Reisestrecke des Handlungsreisenden nach der Rückkehr zum Ausgangsort möglichst kurz ist.

Die Bewegung durch die Open World verkommt also eigentlich zu einem banalen Optimierungsproblem: Wie vermeide ich doppelte Wege?

Der Spieler ist also eigentlich mit einem Optimierungsproblem konfrontiert: Wie vermeide ich doppelte Wege? Wenn ich auf dem Weg zur Main Quest noch diese und diese Nebenmission annehme, muss ich diesen und jenen Umweg machen; auf diesem Umweg kann ich diese Ressourcen sammeln, steige im Level auf, erobere dieses Camp etc etc. Zu einem gewissen Teil verdanken Spiele dieser Art dieser Zerstreuung im Wortsinn, dieser Verhinderung von effizienter Sammlung und Konzentration, ihren Reiz: Angesichts der dauernden, fast meditativen Überhäufung mit mehr oder weniger gleich unwichtigen Kleinaufgaben, die sich in stetem Fluss quasi traumwandlerisch beim Bewegen durch diese Welt erledigen lassen, entstehen sowohl Flow als auch Sucht: Nur noch diese Nebenquest, nur noch bis zu diesem Aufstieg, nur noch diesen einen, letzten Punkt auf der To-do-Liste abhaken, die aber dennoch immer länger wird. 

(Dass dieses Rezept seit einem Jahrzehnt funktioniert, lässt sich mit drei Buchstaben erklären: WoW.)

Dass sich diese Art des Gameplays nur bedingt fürs Erzählen eignet, muss man so hinnehmen. Tatsächlich tut sich Far Cry 4 den Gefallen, die ambitionierte Story des direkten Vorgängers diesmal gleich radikal wegzukürzen. Auch Dragon Age: Inquisition zerfällt in einen erzählenden und einen spielerischen Teil - eine Entwicklung, die man zwar kritisieren kann, andererseits lädt sie auf der anderen Seite vielleicht auch einmal dazu ein, anders zu erzählen als gewohnt - eventuell durch prozedurales Storytelling oder emergente Narrativen, wie immer die auch aussehen mögen.

Die offenen Welten haben zwar eine gewaltige Ausdehnung, bleiben allerdings meist so tiefgründig wie Pfützen.

Was mich persönlich jedoch zum Schluss bringt, dass das Open-World-Paradigma dringend eine Frischzellenkur benötigt, ist die Formelhaftigkeit und auch Oberflächlichkeit, die sich bemerkbar macht. Das große Versprechen "Seht her, hier ist eine ganze Welt, in der ihr euch frei bewegen könnt!"  wird schnell absurd, wenn sich trotz Zukleisterung dieser Welt mit Beschäftigungsangebot herausstellt, dass  die Aufgabe an den Spieler nicht jene ist, diese Welt zu erkunden, sondern den optimalen, also kürzesten und zugleich effizientesten Weg zu finden.

Und dass diese Welten zwar eine gewaltige Ausdehnung vorgeben, allerdings meist so tiefgründig wie Pfützen bleiben, zeigt sich auch an der fehlenden Möglichkeit, mit ihnen zu interagieren: So viele Gegenstände wir sowohl in FC4 als auch in DAI auch einsammeln mögen, letztlich bleibt alles, was nicht direkt vom Charakter "usable" ist, entweder unverrückbar als Tapete in die Umgebung gekleisterte Dekoration, oder aber - fast noch schlimmer - sinnlos und willkürlich benamster Krempel, den ich zwar mitschleppen und verkaufen darf, der aber sonst nur vorgibt "etwas" zu sein: "Valuables" in DAI, Gegenstände in FC4, die letztlich nur noch nicht umgetäuschte Währung sind und Spieler zum doppelt sinnbefreiten Inventory-Management zwingen.

Damals, in grauer Vorzeit, galt es als große Errungenschaft , dass man in Rollenspielen wie Ultima 7 so detailliert mit der Welt interagieren konnte, dass man Mehl verarbeiten, zu Teig kneten und schließlich zu Brot backen konnte; das übersteigt die kümmerliche Interaktion heutiger Rollenspiele so gewaltig, dass man getrost von völlig anderen Genres sprechen kann. (In Skyrim, so könnte man ätzend einwerfen, konnte man sich zumindest noch seine Hütte mit Käselaiben zustapeln.)

Die modernen Open Worlds sind offen, sie sind aber auch vollgestellt und vor allem - ohne Seele. Was diese Seele sein könnte, zeigen manche Spiele, alte wie neue: In STALKER offenbart sie sich im ungerührten Leben der Zone auch ohne unser Zutun, in reinen Exploration-Spielen wie The Long Dark oder DayZ im Überlebenskampf oder schlicht in der Atmosphäre. Auch das vielgeschmähte Far Cry 2 hatte trotz all seiner Mängel ein Flackern und Brennen in sich, das den nach Perfektion und damit maximaler Gefälligkeit strebenden Open-World-Bestsellern der Gegenwart fehlt, wie auch Marsh Davies für RPS kürzlich frech und zu Recht behauptete

Die spannendste aktuelle Antwort auf die Frage nach der Seele der offenen Welten gab vielleicht Shadow of Mordor: In vielen Details mit denselben Problemen behaftet wie alle anderen Open-World-Mammuts unserer Tage, bevölkert seine dynamische Ork-Schar eine Welt, die dadurch mehr zu bieten hat als nur einen riesigen, letztlich starren Vergnügungspark mit ein paar wenigen Knöpfchen, die man drücken und To-do-Listen, die man möglichst schnell abhaken kann - auch wenn das Spiel mit dieser seiner entscheidenden Innovation noch nicht gerade viel anzufangen weiß.

Ich wünsche mir eine Abkehr vom Erfolgsrezept Open World, das zwar inwischen reibungslos funktioniert, aber Langeweile hervorbringt. Ich hätte gern offene Welten, die weniger vollgestopft sind, zugleich aber mehr Leben besitzen. Es wäre an der Zeit, die offenen Welten wieder zu spannenderen Orten zu machen; vielleicht müssen wir aber dafür tatsächlich noch auf den großen Wurf der nächsten Revolution im MMO-Sektor warten.

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