Lost in the dry paper soul of the world: A Machine for Pigs

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Erst vor kurzem hat Christof hier völlig zu Recht bedauert, dass Gone Home durch seine Eindeutigkeit, durch seine ausdrückliche Deklaration als Rätsel mit einer "richtigen" Lösung sich der Chance beraubt, mehr zu sein als "nur" ein Spiel. Tatsächlich ist dies ein Dilemma, das im ganzen Medium allgegenwärtig ist: Statt uns zur Interpretation zu zwingen, geben Spiele uns Antworten, füttern uns mit Eindeutigkeit, mit der "richtigen" Lösung, führen uns spätestens mit dem offiziellen Walkthrough nach vorne, vorbei am absichtlich versteckten Easter Egg und auf der von Achievements gepflasterten Einbahnstraße zum Ziel.

Warum? Kurze Antwort: Weil das Binäre gewohnte Techniker mit Mehrdeutigkeit überfordert sind. Meistens zumindest.

Es geht aber auch anders: Es folgt ein Lob auf Dan Pinchbecks Amnesia - A Machine for Pigs, das in eine völlig andere Richtung weist - eine Richtung, in der Spiele ihren technisch-eindeutigen Kinderschuhen entwachsen und ihren Platz als Kulturgut endlich einmal zu Recht und mit Selbstbewusstsein verteidigen können. Something like Spoilers ahead - wer stattdessen mein - spoilerfreies - Review lesen möchte: bitteschön.

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Amnesia - A Machine for Pigs ist ein Spiel über einen Teufelspakt und den verzweifelten Versuch, ihn aufzulösen, bevor ...

Nein.

Amnesia - A Machine for Pigs ist ein Spiel über einen Industriellen, der durch grauenhafte Experimente den Weltuntergang ...

Nein.

Amnesia - A Machine for Pigs ist ein Spiel über die Suche eines Mannes ohne Gedächtnis nach seinen verschwundenen Kindern, die ...

Nein.

Die Foren sind voll mit Ratlosen: Worum zur Hölle geht es in A Machine for Pigs tatsächlich? Eins vorweg: Nicht nur, dass hier im Folgenden diese Frage nicht beantwortet wird - es sei auch darauf hingewiesen, dass schon die Erwartung einer Antwort auf diese Frage der Idee des offenen Kunstwerks widerspricht, die Pinchbeck hier wie in Dear Esther auf seine staunende und großteils unvorbereitete Spielerschaft loslässt.

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Edgar Allan Poe, so könnte man arg verknappt einleiten, hat die Geistergeschichte in die Realität geholt und so zugleich den modernen Kriminalroman erfunden; und dieses für uns so selbstverständliche Konstrukt wird auch über 100 Jahre und ein ganzes Jahrhundert der literarischen Moderne später nur selten verlassen. Huhu, da ist ein Geist - und mit der Suche nach dem Grund für sein Spuken wird dieser unheimliche Besucher aus einer anderen Welt  nicht nur erlöst, sondern die Aufdeckung einer Ungerechtigkeit, einer Untat reinigt und bessert auch die Welt. Das ist das Happy End, das aus der Begegnung mit dem Übernatürlichen verlässlich eine Detektivgeschichte macht, eine Jagd nach dem Warum, im festen Glauben daran, dass es diese Antwort gibt: von Ringu über Poltergeist, von FEAR bis Amnesia - The Dark Descent, von Scooby Doo bis Silent Hill. Es sind rationale Geister, die uns Rätsel aufgeben - lösen wir sie, hat der Spuk ein Ende. Die Lösung, sie ist zugleich Erlösung.

A Machine for Pigs bricht mit dieser stillschweigenden Übereinkunft, doch das bemerkt man - oder auch nicht - erst ganz am Schluss. Es gibt keine Lösung. Es gibt auch keine Erlösung. A Machine for Pigs ist somit zuallererst ein ästhetisches Erlebnis, das von seiner Eindringlichkeit lebt; hierin liegt auf jeden Fall der grundlegend größte Unterschied zu Gone Home, das, zu Christofs Bedauern, ganz klassisch ein Rätsel liefert, das zu verstehen zugleich den Spielgewinn bedeutet. A Machine for Pigs hat im Gegensatz dazu keine Antworten, und auch die Fragen, die es (scheinbar) stellt, führen uns nur in die Irre.

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Stattdessen ist es wie gesagt vor allem anderen ein ästhetisches Erlebnis, atmosphärischer Horror, der vom Moment der Angst, mehr noch: von der Vorahnung des Schreckens lebt und seine Rationalität wieder und wieder nur vortäuscht - wie bei Dear Esther die Fragmente keine Geschichte ergeben, fügt sich auch hier nichts zum Ganzen. Warum oder wie sollte es das auch - wenn seine Themen jene des kurzen 20. Jahrhunderts der Massenmorde und Vernichtungsideologien sind? 

A Machine for Pigs ist vor allem ein meisterhaft errichteter Albtraum aus Bestandteilen der Zeitgeschichte

Diese Themen - und zugleich Kulisse, Staffage und Elemente - sind unter anderen die unmenschliche Ästhetik der Industrialisierung, menschenleere und entmenschlichte Fabriksmaschinen, das Datum des Geschehens - Silvester 1899 - als düsterer Vorabend des Zeitalters der Extreme, die Schweine, wie der Mensch Allesfresser, Opfer und Monster zugleich, die aberwitzige Logik des unmenschlich Bestialischen, die Banalität des Bösen - die dry paper soul of the world -, Verweise auf die Komplizenschaft von Wissenschaft, Wirtschaft und Wahnsinn, Mythos und Größenwahn, Krieg und Kapitalismus, industrialisierter Mord und mörderische Industrialisierung. War Dear Esther eine Meditation in Spielform, die sich erst im Kopf des Spielers zusammensetzt, ist A Machine for Pigs ein meisterhaft errichteter Albtraum aus Bestandteilen der Zeitgeschichte. 

Doch daraus wird mehr als ein Museum: Wie der Schrecken des Jahrhunderts der Rationalität, der Vernunft, der Wissenschaft die irrationalsten, blutrünstigsten Wahnsinnsgenozide hervorgerufen hat, lässt A Machine for Pigs uns als Spieler an einem Abbild, einer Karikatur dieses Wahnsinns teilhaben (und verweist nebenbei ausdrücklich auf die reale Geschichte). Die Rationalität - unsere, des Spielers - ist eine Lüge, ist geboren im Blut und endet im Blut, wie die Rituale der mexikanischen Todesgötter, die zu besänftigen mit bloßen Händen unmöglich geworden ist. Um das erahnte oder visionierte Massaker des kommenden Jahrhunderts abzuwenden, wollen wir im Gegengeschäft Blutopfer bringen, doch mit den Mitteln der Moderne: mit Maschinen, Effizienz und Methode. Dass es trotzdem - natürlich - Wahnsinn bleibt, verstehen wir als Spieler erst im Ende, als sich dennoch nichts fügt - wie auch? 

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In Albtraumlogik bleibt das Rätsel, die Antwort auf die eine Frage - Warum das alles? - unbeantwortet, bleibt das Puzzle beunruhigend unvollständig. A Machine for Pigs deutet an, zeigt vielleicht nur wahnsinnige Visionen statt der Realität: Gibt es die Stimme in unserem Kopf ebensowenig wie unsere Kinder? Existieren auch die Monster nur in unserem Kopf? Wird London wirklich von Schweinebestien überrannt, oder hören wir hier etwa nur das Feuerwerk des Neujahrsabends?

Eine nüchterne, aus der Vernunft geborene aber in ihrer Rationalität dem Wahnsinn dienende Vernichtungs-fantasie, die ihre Opfer zugleich als Errichter und Bediener braucht

A Machine for Pigs gibt uns keine “Lösung”, keine “richtige” Interpretation, sondern nur Andeutung, Hinweise, Irrwege in ein Grauen, das gerade wegen dieser Undurchdringlichkeit beeindruckt. Die Maschine, eine Maschine für Schweine, bedient von Schweinen und gemacht für das Schlachten von Schweinen, die das Jahrhundert retten soll, ist, wie der reale Wahnsinn des Jahrhunderts des industriellen Massenmordes, eine nüchterne, aus der Vernunft geborene aber in ihrer Rationalität dem hellen Wahnsinn dienende Vernichtungsfantasie, die ihre Opfer zugleich als Errichter und Bediener braucht - geboren, wie so viele ideologische Mordmaschinen, aus dem Wunsch, die Welt zu verbessern.  Und die Schweine? Sie sind nicht nur die Betreiber, sondern auch das Produkt und somit Opfer der Maschine wie auch Täter zugleich.

Eine Maschine für Schweine - selten sah man sich einer bittereren Metapher gegenüber, um die großen Terrorideologien des 20. Jahrhunderts ebenso wie den sie bedingenden Kapitalismus zu beschreiben, der hier, in seiner tödlich naiven Vorform zum Ende des 19. Jahrhunderts, die symbolische Bühnenkonstruktion abgibt. 

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So ist A Machine for Pigs tatsächlich ein Horrorspiel, und vermutlich eines der reinsten seiner Art. Wie Stanley Kubricks The Shining eine störrischen Kern der Unerklärlichkeit als Widerhaken besitzt, wie in David Lynchs Lost Highway mit dem Wahnsinn des Protagonisten der Blickwinkel des Zuschauers gestört wird, wie in Mark Danielewskis House of Leaves ein nur erfahrbares, aber nicht erklärbares Grauen im Zentrum steht, so bleibt A Machine for Pigs absichtlich dunkel, mehrdeutig, irrational. Sein Horror ist, wie jeder wahre Schrecken, der Horror des Nicht-Verstehens; der Schrecken der Irrationalität, die sich beispielhaft auch durch das meisterhafte Design der Narration zieht.

Der Horror hier ist, wie jeder wahre Schrecken, der Horror des Nicht-Verstehens, der Schrecken der Irrationalität

Denn nicht zuletzt ist genau das die große Pointe eines Spiels, das sich nicht zufällig das 20. Jahrhundert als Thema gewählt hat: Dass sich vor dem mechanistisch-nüchternen Hintergrund einer vernunftvoll geplanten Industriearchitektur das irrationale Morden eingerichtet hat, in der wir, als deren Erbauer, nun auf der Suche nach Antworten sind, warum wir das alles selbst getan haben - und wir schlussendlich nur Bruchstücke finden, Beweise unserer Schuld und unseres Wahnsinns. Die Lösung, sie fehlt. Dieser Spuk verschwindet nicht.

Es gibt nur Albtraumlogik hier, die zugleich eben Rationalität eines sinnlosen Massenmordens ist, das sich aber, wie wir Bürger des 21. Jahrhunderts wissen, in der Realität des vergangenen Jahrhunderts mit nicht weniger Irrationalität tatsächlich zugetragen hat. Dass A Machine for Pigs mit diesen Themen spielen kann, ohne banal zu werden, dass es zu diesen Interpretationen einlädt, ohne platt zu wirken, ist ein Kunststück, das hoffentlich von anderen Spielen noch oft wiederholt werden wird.

 
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