The Games That Never Were: Volker Bonackers Tomb Raider

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Volker Bonacker beweist uns einmal mehr, wie ernst er es gottlob mit der Abkehr vom Schreiben über Games gemeint hat und macht sich Gedanken über ein Tomb Raider-Reboot, das so leider niemals stattgefunden hat.

Zwischen dem Tomb Raider, das ich haben wollte und dem Tomb Raider, das ich bekam, bestehen einige Unterschiede. Schuld daran ist meine Erwartungshaltung, die wiederum von klugen Marketingmenschen dahingehend geschürt wurde, dass ich mich auf ein Survival-Abenteuer gefreut habe. Auf ein Spiel, das sich um das Thema "Überleben" dreht, das den ihm verliehenen Untertitel "A Survivor is born" redlich verdient.

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Dass es nicht ganz so gekommen ist, illustriert ein kürzlich von IGN veröffentlichter Clip mit dem Titel "Tomb Raider vs Tomb Raider: Battle of the Bodycounts". Der „Bodycount“, eine Aufzählung der durch den Helden getöteten Gegner, deren Höchststand im Actionkino lange von Rambo 2 und Rambo 3 gehalten wurde, beträgt beim 1996 veröffentlichten Lara-Debut genau fünf.

17 Jahre später sind es 433 und damit ist klar: Lara überlebt nicht, Lara ist viel mehr zur weiblichen Rambo-Ausgabe geworden.

Kritik am Umstand, dass exzessiver Gebrauch von Actionszenen der gut gemeinten Idee, eine Art Coming-of-Age-Game mit Fokus auf einer packenden Story zu machen, nicht gerade in die Hände spielt, ist bereits zur Genüge geäußert worden - und wird dieser Tage in ganz ähnlicher Weise an BioShock Infinite geäußert. Dieselbe Kritik lässt sich aber auch auf das 2012 veröffentlichte Far Cry 3 anwenden, dessen Held Jason Brody sich ebenfalls in Rekordgeschwindigkeit von Milchbrötchen zu Hartwurst wandelte. Dieser Beitrag zu The Games That Never Were lässt sich daher einerseits als den Wunsch nach einer wirklichen "Überlebenden" Lara lesen, andererseits als Kritik am Umstand, dass es die (kommerzielle) Spieleindustrie weiterhin nicht / viel zu selten hinbekommen will, Story und Umsetzung stimmig zu vereinbaren.

Schiffbruch, verstreute Crew, Dunkelheit - der Beginn passt. Als Lara unter einen Felsvorsprung gekauert ein Feuer zu entfachen versucht, umgeben lediglich von Finsternis und fallendem Regen, tut sie mir wirklich leid. Beinahe fühle ich, wie sie fröstelnd dort sitzt und Angst hat, nach Hause will, ihre Freunde wiedersehen und diesen Alptraum einfach vergessen. Das ist nicht jener viel kritisierte "Beschützer"-Moment, der den Entwicklern im Vorfeld heftige Kritik einbrachte, sondern schlichtes Mitleid. Das ich mir gerne bis zum Abspann bewahrt hätte, weshalb die Geschichte ab dem Auffinden der ersten Waffe alternativ fortgeschrieben werden muss.

Im Folgenden beschreibe ich euch mein Tomb Raider, meine neue Lara, wie ich sie gerne gesehen hätte – auch das leider ein Game That Never Was.

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Ein Bogen. Hatte ich als Kind auch mal, wie jedes Kind vermutlich. Wir haben die Dinger aus Haselnuss-Stöcken gebaut. Tauglich waren sie nicht wirklich, aber den Zweck haben sie erfüllt: Das Gefühl zu vermitteln, einen Bogen zu besitzen. Hier steht schon ein besseres Modell und wir wollen's mal nicht zu genau nehmen und verzichten auf die Frage, wie um alles in der Welt dieser Bogen auf einer verlassenen Insel landen konnte. Schließlich hat Lara nach den Strapazen der letzten Stunden Hunger und auf dem Boden finden sich Spuren von Tieren. Die kann die Heldin zwar nicht zuordnen, ihnen nachlaufen aber allemal.

Als sie wenig später und mit weiterhin unsäglich knurrendem Magen einen Hirsch erblickt, stellt sich erstmals die Frage, die später in anderem Kontext wiederkehren wird: Wie tötet man? In diesem Fall findet sich die vom Hunger getriebene Antwort noch recht leicht: Pfeil auflegen, zielen, Schuss. Dass die Annahme, ein einzelner Pfeil könne ein kapitales Tier erlegen, nicht mit der Realität vereinbar ist, findet Lara anschließend heraus, als sie einen lediglich angeschossenen Hirsch aus der Nähe erledigen muss. Sie hat kein Messer oder ähnliche Waffen, was die Sache zu einer archaischen Angelegenheit biblischer Version macht: Lara greift zum Stein (hätte die USK das durchgewunken?).

Mein Tomb Raider stellt wiederholt eine ernsthafte Frage: Wie tötet man?

Das war er, Laras erster Mord. Nun bedeutet ein totes Tier noch keinen vollen Magen und man möchte Lara gerne ersparen, was nötig ist, um an das zu gelangen, was sie vom Hirsch will - wenn sie überleben möchte und Überleben bedeutet in dieser Situation, mit Konventionen darüber, was eklig ist, was nicht mit angesehen werden möchte, zu brechen, sowohl Lara als auch den Spieler betreffend (Ironie und in Videospielform geäußerte Sozialkritik gleichermaßen: Fleisch essende Menschen haben täglich ein ganz ähnliches Problem. Müssten sie ihre Nahrung selbst töten, häuten und anschließend zerlegen, wäre der Anteil an Vegetariern vermutlich um ein vielfaches höher. Aber wir wollen nicht sehen, wir wollen vor allem nicht hinsehen.).

Die passende, leise erklingende Hintergrundmusik kommt übrigens von den Smiths. Morrissey als bisweilen bissiger Zyniker hätte sicher eine gewisse Freude daran, diese Szene mit Meat is murder zu unterlegen.

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Der erste Kontakt mit anderen Menschen - und damit automatisch die Frage, wer die sind, was die auf dieser Insel tun, warum die so komisch gekleidet sind, ob das Eingeborene sind, ob sie die gleiche Sprache sprechen. Ob man ihnen trauen kann. Lara sieht den Mann nur von weitem - er scheint gerade ebenfalls auf der Jagd und trägt im Gegensatz zur Heldin keinen Bogen, sondern ein Gewehr. Seine Kleidung ist zerschlissen, seine Erscheinung eher ausgemergelt. Er könnte ebenfalls Schiffbruch erlitten haben. Könnte. Die Fragezeichen sind es, die Lara davon abhalten, sich dem Fremden zu nähren, Xenophobie, here we go.

Ehe sich die Jugendliche weitere Gedanken um den Unbekannten machen kann, tritt sie - unerfahren wie sie eben immer noch in Sachen Jagd und Kampf ist - auf einen verdorrten Ast, der knackend bricht und den Fremden aufhorchen lässt. Der - wiederum deutlich erfahrener, was Überlebensfragen betrifft - sieht Lara und attackiert. Schön: Damit wäre die Frage geklärt, ob die Typen friedlich gesonnen sind. Weniger schön: Der Typ hat immer noch ein Gewehr und man sollte bekanntlich nicht mit einem Messer bei einer Schießerei auftauchen (wenn Lara wenigstens das hätte!).

Wie tötet man einen Menschen? Was ist das für ein Gefühl, ihn aus dem Leben zu reißen, sein Leben nicht auf die natürliche Weise mit einem natürlichen Tod enden zu lassen, sondern es ihm zu nehmen, Gott zu spielen? Ich weiß es nicht - und ich will es genau genommen nicht wissen. Tödliche Gewalt und Zivilisation kommen nicht miteinander überein und ich versuche, Gewalt dahingehend aus meinem Leben zu verbannen, dass ich ganz einfach anderen Menschen keine antue - weil ich auch keine angetan bekommen möchte. So lange sich alle an diesen einfachen Grundsatz halten, kommen wir friedlich miteinander aus. Bricht einer diese gesamtgesellschaftlich getroffene Vereinbarung, sanktionieren wir das, denn das Monopol über und die Legitimation zur Gewaltanwendung hat eine Institution inne, die ihre Existenz unserem Zuspruch verdankt: der Staat.

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Dort, wo Lara ist, gibt es keinen Staat. Auch keine Polizei oder beherzt eingreifende, zivilcouragierte Menschen, die den Angreifer stoppen werden. Und schon gar keinen Gesellschaftsvertrag, der Gewaltanwendung ächtet. Kurz: Es gibt nichts, das sie ihrem Angreifer entgegensetzen kann außer ebenfalls tödlicher Gewalt und vermutlich kommt das dem Gefühl nahe, das Soldaten verspüren müssen, die in einem Einsatz den Befehl erhalten, notfalls mit allen Mitteln gegen angreifende Kräfte vorzugehen. Konfrontiert mit dem Umstand, dass der Opponent nach nicht weniger als dem eigenen Leben trachtet, entwickelt Lara ungeahnte Kräfte - kein ungewöhnlicher Umstand angesichts der "Fight or Flight"-Situation und vermutlich auch im wirklichen Leben anzutreffen. Vergessen wir also für wenige Minuten, dass ihr Oberarmumfang keine 30 Zentimeter überschreiten dürfte, vergessen wir, dass sie vor wenigen Stunden noch ein Kind eines britischen Adligen war, das Gewalt bestenfalls aus Videospielen kannte. Vergessen wir alles, was wir über Menschlichkeit gewusst haben, vergessen wir, an das, was wir zu tun im Begriff sind, auch nur zu denken. Tun wir.

Mit welchem Gefühl bleibt ein Mensch zurück, der gerade einen anderen Menschen getötet hat?

Mit welchem Gefühl bleibt ein Mensch zurück, der gerade einen anderen Menschen getötet hat? Was hat dieser Mensch während einem minutenlangen Kampf gefühlt? Denn so lange wird es vermutlich dauern, bis Lara ihren Gegner mit der bloßen Kraft ihrer Hände getötet hat. Er wird sich wehren, er wird um sein Leben kämpfen, selbst dann noch, wenn sie ihren Arm (natürlich mittels einem Quicktime-Event) um seinen Hals gelegt hat und mit einer ihr bis dahin unbekannten Kraft zudrückt, selbst dann noch, wenn er realisiert hat, dass es das nun war. Ich kann mir vorstellen, dass sich Lara nicht vorstellen kann, was sie da gerade getan hat. Ich kann mir vorstellen, dass ich mir nicht vorstellen kann, was ich da gerade getan habe. Dass ich es nie vergessen werde, kann ich mit Gewissheit sagen. Denn es war falsch, so wie Töten immer falsch und nie richtig ist, nie richtig sein kann - aus egal welchen Gründen.

Doch das hier ist keine Situation, die in einer zivilisierten Umgebung stattfindet und diesen Umstand hält mir das Spiel seine gesamte Dauer über vor, daran erinnert es mich wieder und wieder. Das hier ist Überleben - und das ist ein Exkurs darin, alles was ich über das Menschsein zu wissen geglaubt habe, ad acta zu legen. Das hier ist letztlich auch Krieg, das hier ist ein anschauliches Beispiel dafür, warum wir alles tun, alles tun sollten, um Krieg zu vermeiden.

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Daran denke ich bei jedem der insgesamt acht Morde, die ich im Laufe des Spiels noch begehen werde. Denn so viele Männer sind es, die sich zu einer Art Gang zusammengeschlossen haben, die die Insel beherrscht oder das zumindest aufgrund ihrer Feuerkraft annimmt. Lara und ich erkunden dieses tödliche Eiland gemeinsam. Nicht in voneinander isolierten Abschnitten, die Freiheit nur vorgaukeln, sondern einer völlig offenen Welt, die uns von Beginn an erlaubt, sämtliche Ecken und Enden dieser schroffen, kargen Insel zu begehen.

Nicht das Töten steht im Vordergrund, sondern das Überleben. Lara wird weiterhin essen und trinken müssen, sie wird sich sichere Plätze für die Nacht suchen, sie wird nicht schlafen können, sie wird Angst haben, ein Feuer zu entfachen - schließlich könnte der Mann nicht alleine gewesen sein, es könnte weitere geben. Ich werde diese Angst vor dem, was ungewiss ist, teilen. Ich werde entschieden, ob ich besser auf dem freien Feld schlafe oder mir eine Höhle suche, ob ich lieber Beeren esse und damit hungrig bleibe oder erneut ein Tier töte und das grausame Procedere abermals mitmache.

Was auch passiert, ich werde die Wahl haben - und das ist wichtig. Denn selbst in dieser unwirtlichen Umgebung, in der jeder Gedanke an einen aufgeklärten, zivilisierten Menschen fehl am Platz scheint, besteht eine Wahl. Selbst im Krieg kann ich entscheiden. Es besteht die Hoffnung, aus dieser ganzen Angelegenheit noch irgendwie als Mensch rauszukommen und das Ziel des Spiels soll es sein, mir diese Hoffnung bis zuletzt vorzuspielen, mich zu belügen damit, dass all diese Morde schon irgendwie gerechtfertigt sind, um mich dann am Ende mit der vollen Tragweite meiner Taten zu konfrontieren (Shadow of the Colossus sendet einen Gruß) - schließlich hätte ich die neun Männer nicht töten müssen.

Vielleicht.

Ob es ein "vielleicht auch nicht" gegeben hätte, kann ich nun nicht mehr herausfinden. Es ist zu spät. Lara hat überlebt. Lara ist ein Monster geworden. Ich bin ein Monster geworden.

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Tomb Raider hätte auf wenige, intensive, minuten- statt sekundenlange Kämpfe setzen sollen, die mir zwar nicht das Gefühl des Tötens vermitteln, wohl aber, dass das Töten von Menschen (und Tieren!) kein beliebig austauschbarer, 433 Mal wiederholbarer Akt ist. Sondern Barbarei. Ich hätte mir stärkere Erkundungsmomente gewünscht, die zeigen, dass Überleben nicht nur bedeutet, dass andere nicht überleben, sondern dazu auch Dinge wie Essen, Schlafplätze finden oder Kleidung suchen gehören - die in einer vertrauten Umgebung Teil eines banalen Alltags sein mögen, in einer fremden, feindlichen Welt jedoch zur Herausforderung werden.

"Meine" Lara sollte in die Zivilisation als Frau zurückkehren, die Unmenschliches, Überlebensgroßes erleben musste, die wiederholt und trotz heftiger Gegenwehr dazu gezwungen wurde, in den Abgrund menschlichen Daseins zu blicken - und nach ihren Taten selbst zum Abgrund wurde.

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