The Games That Never Were: E-MOTION

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Diesmal schenkt mir die wunderbare Agata Góralczyk gleich ein ganzes Science-Fiction-Szenario.

!!! Wichtiger Hinweis: Diese Sendung wird zum Schutze Minderjähriger mit einem EMO-Filter ausgestrahlt !!!

> Unser heutiger Gast im Retro-Cast ist ana76. Sie hat damals die Entwicklung der EMOs von der ersten Stunde an miterlebt und erzählt uns über die Anfänge einer Technologie, ohne die wir uns heute die Welt nicht mehr vorstellen könnten. Wir nennen sie heute EMOs. Aber ursprünglich hießen die ja anders?

Ja: E-MOTION. Irgendwie war der Namen eigentlich viel zu 'tacky'. Wir prophezeiten dem Ding den sicheren Tod noch vor dem nächsten Weihnachtsgeschäft. Hat sich aber dann doch durchgesetzt.

Wenn man es aus heutiger Perspektive sieht, war der Name doch schon irgendwie sehr treffend. Die Idee war: mit Gefühlen steuern, die Welt in Bewegung setzen.

Das war so ein dünner Reif, der lag so schön locker auf der Stirn und versprach diesen wundervollen Traum zu erfüllen: Gefühle sichtbar machen.

> Heute sind die EMOs ja überall. Aber womit fing das Ganze denn an?

Die ersten Anwendungen waren einfach und auch ein bisschen fantasielos. Da waren also diese Bilder, die unsere Gefühle zeigten. Wilde Collagen aus verschmierten Farbkleksen, Wortschnipseln und kleinen Tonspielchen.

Mit der Zeit wurde die Darstellung detaillierter und auch irgendwie dramatischer: Rote Gewitterwolken der Aggression stoben über den Flatscreenhimmel, darunter saftig grüne Wiesen entspannter Zufriedenheit. Der Soundtrack der Gefühle konnte anfangs auch schon erschreckend sein.

Trotzdem war ich damals echt geflasht. Mir war klar, dass das der Anfang von etwas ganz Großem war.

Heute lachen die Leute darüber. Aber: Synästhesien gab es damals nur für Hochbegabte...

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> Die EMOs von damals waren ne recht geschlossene und irgendwie umständliche Sache. Kannst Du ein bisschen was aus der Zeit erzählen?

Ja, da erinnere ich mich an ne Sache. Es gab recht früh ne Modding-und-Hacker-Szene. Die Hersteller hatten das ganz clever gemacht und werksseitig die EMOs nur aufs Abscannen oberflächlicher Gefühle eingestellt. Das war zunächst einfach ein Ressourcenproblem. Die Prozessoren der ersten Generation waren schon damit ausgelastet, eine Handvoll Gefühle gleichzeitig auszulesen. Niemand dachte da an die Tiefe.

Ich erinnere mich an den ersten illegalen Mod, den meine Freundin Kerstin damals hatte. Irgendein Arbeitskollege hatte das Ding als Schwarzimport aus Fernost von der letzten Dienstreise mitgebracht. Wir wussten gar nicht so richtig, was das Teil so konnte und hatten auch ein bisschen Schiss. Schließlich geisterten diese Horrorstories von Leuten rum, denen ihr gemoddedes E-MOTION auf dem Kopf explodiert war.

Was dann aber explodierte, war nicht mein Hirn, sondern meine Psyche. Die visuelle Darstellung war im Verhältnis zur gewohnten Grafikpracht zwar ein Witz.

Trozdem war's der totale Flash. Das Ding griff nicht nur die drei bis vier oberflächlichen Gefühle ab. Nein. Zig Gefühle bombten gleichzeitig los und dann auch noch der ganze verdrängte Dreck mit auf dem Bildschirm. Es war echt krass und echt nicht schön. Nach fünf Minuten hab ich Kerstins Sofa vollgekotzt.

> Vom EMO überfordert also?

Wenn ich so an diese Zeit und daran zurück denke, wie emotional infantil wir alle waren...

Aus Rache erzählt Kerstin in schöner Regelmäßigkeit die Geschichte mit dem Sofa meinen Enkelkinder. Um ehrlich zu sein, lachen die wahrscheinlich mehr aus Höflichkeit. Wie sollen die das auch verstehen, wo heute jedes Kindergartenkind im EMO-Musikkreis ist. Die Chips sind so klein, dass sie selbst in ne Piccoloflöte passen.

Aber damals war das ein echt teures Stück Hardware. Ein Konsolenzubehör halt. Dass das eines Tages die Welt so verändern würde...

> In den Zeitungsberichten von damals wurden auch noch ganz andere Probleme geschildert.

Oh ja. Die BILD war voll davon: Dieter Bohlen - EMO-Sucht. Oder: Heidi Klum verweigert EMO-Training - muss sie jetzt ihr Kind abgeben?

Im Manager-Magazin tauchten dann Artikel zu EMO-Knigge auf. Und so halt. Neue Möglichkeiten bringen immer neue Probleme mit sich.

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> Gehen wir nochmal zurück. Du sagtest, dass man die EMOs zunächst nur zur Darstellung nutzte. Wie ging es da weiter?

Hmh. Nach kurzer Zeit tauchten die ersten Lets-Play-Videos von Leuten auf, die die Bilder nicht nur so laufen ließen. Klar. Es war der nächste natürliche Entwicklungsschritt: weg vom reinen Abbilden hin zum Gestalten. Aber zunächst haben wir das nicht glauben können: Dass jemand in der Lage war, die Bilder zu steuern.

Und dann ging es super schnell. Eine breite Bewegung entstand, die zum Vorreiter von EMO-Art wurde. Schließlich ist Kunst ja nichts anderes, als seinem Erleben und seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. Was lag da näher, als die Gefühle direkt zu nutzen. Das EMO wurde dann irgendwann ja auch zum vorherrschenden Kunstwerkzeug.

> Die EMOs mussten sich aber vorher noch ordentlich wandeln...

Uhm, ja. Gleichzeitig mit der Entwicklung von EMO-Art bekam die Hardware einen wahnsinns Schub. Die Hersteller hatten anscheinend das Potential der Technologie erkannt und sprangen alle auf das EMO-Pferd auf. Es gab hunderte von Modellen und Versionen. Dem folgten dann natürlich auch jede Menge Patentrechtsstreitigkeiten. Damals wirkte das recht harmlos: Scharmützel zwischen Hardwareherstellern. Das hatten wir vorher zur Genüge gesehen. Na ja. Heute wissen wir, dass es ganz anders werden sollte...

> Du spielst auf die ... Kriege an?

Oh Mann. Wir waren so naiv... Das... Das kann man sich echt nicht vorstellen... Ich meine... Da ging’s um Persönlichkeitsrechte und so diese ganze Gefühlskriegsgeschichte und so... Eingriffe in die Psyche und Gefühlsmodding... Heute gilt das als Verbrechen gegen das Menschliche...

> ...

Sorry... Wo war ich? ... Ach so... Hardware... Diese Vielfalt von Modellen und so führte dazu, dass sich die Hardware unglaublich schnell veränderte: Die Chips wurden kleiner, schneller, mächtiger. Die Entwicklungszyklen kaum noch überschaubar. Dies gab der Ausbreitung von EMOs in allen Lebensbereichen und Geräten Vorschub.

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> Kommen wir mal wieder auf das Gaming zurück. Die EMOs haben auch Gamer und Gaming massiv verändert. Kannst Du mal ein bisschen davon erzählen?

Ich hab vor der Sendung mal Bilder von Gamern aus dem Jahr ... ähm ... 2013 rausgesucht. Das war damals auf so einer "Videospielemesse". Die hieß GamesCom. Jedenfalls: Man erkennt die überhaupt nicht mehr als solche wieder.

Diese Veränderung fing mit den EMOs als Eingabegeräte für Videospiele an. Schließlich wurde das Ding zunächst genau dafür entwickelt.

Als Erstes wurden kleine Ingame-Avatare mit den echten Gefühlen der Benutzer versehen: Das, was wir heute in jedem Sozialprofil sehen können.

Das wurde dann auf die Spielfiguren über Casualtitel hinaus ausgeweitet. Zusammen mit der Entwicklungen der Grafikengines, detaillierte Mimik darstellen zu können, führte das zu einer radikal neuen Stufe der Spielimmersion. Das erste Mal, dass ich einen Squad-Shooter spielte und am Gesicht meines Kollegen die Situation lesen konnte... Wahnsinn...

Dann gab es noch so kleine Steuerspielchen: Pong mit Gefühlssteuerung, einfache Arcadetitel, Sidescroller und so. Das hatte spielerisch erst einmal nen reinen Neuigkeitswert. Erst später haben Psychologen verstanden, was man damit alles anstellen kann.

Zum Schluss will ich natürlich die ganzen RPGs und MMOs mit Gefühlssteuerung nicht vergessen. Das war - muss man ehrlich sagen - echt ne gewagte Sache. Du wusstest damals nie, ob der Raid-Magier neben Dir klassisch mit Maus und Tastatur steuerte oder ob sich nicht gleich irgendein heißgelaufener Feuerball loslösen und die halbe Truppe ankokeln würde, nur weil dem Spieler zu Hause gerade seine Katze auf den Schoß gesprungen war.

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> Das hört sich alles sehr wild und völlig ungeregelt an.

Na, ja. Meine Geschichte mit Kerstins Sofa war kein Ausnahmefall. Irgendwann merkten wir EMO-Spieler, wie zurückgeblieben wir im Umgang mit unseren Emotionen waren. Wir explodierten unsere Wut anderen Menschen "in-the-face". Unsere unbewussten Emotionen erschlugen uns geradezu, wir hatten überhaupt keine Kontrolle darüber.

Ich meine: Seit wann gibt es denn überhaupt erst EMO-Filter? Ihr verwendet doch einen, oder?!

> Natürlich!

Puh. OK.

Ja, es fing halt alles mit den Spielen an. Wie jedes Spiel uns durch sein Regelwerk dazu bringt, uns anzupassen, zu trainieren und besser zu werden, wenn wir weiter kommen wollen, hat das EMO etwas völlig Verrücktes bewirkt: Videospieler fingen an, bewusst mit ihren Emotionen umzugehen.

Das muss man sich mal vorstellen: Die als ungewaschene Nerds und soziophobe Freaks verschrienen Gamer entwickelten sich plötzlich zu emotional reflektierten Menschen. Das fiel auf. Auf einmal standen wir im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Klar, heute sind EMO-Gamer echte Stars: erfolgreich, begehrt, die gesellschaftliche Creme-de-la-Creme. Immerhin skillen sie den ganzen Tag an ihren Emotionen und gelten als besonders kultiviert und hoch entwickelt.

Aber damals...

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> Du sprichst davon, was wir heute als das EMO-Psy-Paradigma bezeichnen.

Genau. Psychologen versuchten noch vor der EMO-Zeit mit Videospielchen Leuten beizubringen, bestimmte eigene Funktionen zu steuern. Bio-Feedback-Therapie hieß das damals. Da saßen dann z.B. Menschen mit Anfallsneigung mit ner Haube voller Elektroden auf dem Kopf vor einem Bildschirm und versuchten einen Ballon zu steuern. So lernten sie ihre Anfälle zu vermeiden. Das war völlig krude, aber im Endeffekt so eine EMO-Vorstufe.

Als dann die EMOs massentauglich wurden, gings richtig rund. Ich erinnere mich noch an so ganz pathetische Fernsehspots, in denen gephotoshopte Blondinen sich mit nem flackerndem EMO-Reifen auf dem Kopf in nem Liegesessel räkelten und eine sonore Stimme im Hintergrund was von Tiefenentspannung faselte.

Man muss sich klar machen, dass das damals eine völlig von Leistung, Wachstum und Konsum besessene Gesellschaft war. Alles unterlag diesem Maximierungswahn. So war die Idee, dass man mit dem EMO sich schneller und besser entspannen könnte, um wieder schneller leistungsfähiger zu werden. Oder dass man durch Gefühlssteuerung schneller lernen könnte, um nen Vorsprung vor der Konkurrenz auf dem "Arbeitsmarkt" zu erreichen. Eine wahnsinnige Zeit war das...

> Wenn ich Dir so zuhöre, dann erinnert mich das irgendwie an diesen "Wilden Westen".

Hah, "Wilder Westen", das ist echt gut. Aber ich weiß, was Du meinst. Irgendwo waren wir ja schon Pioniere. Unerforschtes Gebiet und so. Nur halt nicht in der Steppe, sondern in den Weiten der Emotionen...

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