The Games That Never Were: Cormac McCarthy's The Road

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Stagnation, Aufgewärmtes, Sequels: Wer sagt, dass es bei Games nicht noch Platz für revolutionär Neues, für Unerwartetes, Abwegiges oder schlicht: das Unmögliche geben darf? The Games That Never Were ist ein Gedankenexperiment: Spiele, wie es sie nie gegeben hat und so auch wohl nicht geben wird. Diesmal besucht uns nach langem wieder mal Reinhard Zierhofer mit seiner eigenen Apokalypse.

Ein Stück weg von der Straße, ca. einen Kilometer, sehe ich ein halbwegs intaktes Haus. Seit drei Tagen haben mein Sohn und ich nun schon nichts mehr gegessen. Er sieht schon sehr abgemagert aus, ist noch blasser als sonst. Unsere Gehgeschwindigkeit wird immer langsamer, die Ruhepausen immer länger. Soll ich dort hin? Ich kann unseren Einkaufswagen, auf dem wir unsere letzten Habseligkeiten – Decken, einen Gaskocher, etwas Werkzeug – transportieren, dorthin nicht mitnehmen. Soll ich ihn notdürftig verstecken, den Revolver mit dem letzten Schuss Munition ziehen und nachsehen gehen? Wir brauchen was zum Essen, und dieses Haus ist unsere erste Chance seit Tagen, etwas zu finden. Ich könnte auch meinen Sohn hier lassen um den Wagen zu bewachen, aber er hat jetzt schon Angst. Er hat aber auch Angst, zu dem Haus zu gehen, das sehe ich ihm an. Er hat Angst, dass wir wie beim letzten Mal etwas finden, das er nicht sehen sollte. Das niemand sehen sollte. Das sich in deinem Kopf festsetzt und nicht mehr raus geht - Alpträume verursacht. Wir brauchen was zum Essen. Wir müssen es versuchen.

Cormac McCarthys Buch The Road zeichnet das Bild eines postapokalyptischen Amerikas aus der Sicht eines Mannes und seines Sohnes, die versuchen, durch eine verbrannte, in einem vom nuklearen (?) Winter gefangene Welt nach Süden zu kommen. Dort hoffen sie zu überleben und andere „gute“ Menschen zu finden. Das dazu passende Spiel versetzt uns in die Rolle dieses Mannes.

Das Intro ist schlicht, ein schwarzer Bildschirm mit weißer Schrift: „Es ist ungefähr zehn Jahre her, dass die Welt, wie du sie kanntest, in Feuer und Asche versank. Deine Frau hat eine Woche nach dem Ende der Welt einen Jungen geboren. Nach einiger Zeit konnte deine Frau diese Welt nicht mehr ertragen und ging. Der Junge und du habt seither versucht, zu überleben. In letzter Zeit hast du gemerkt, dass dein Husten nicht mehr besser wird und du Blut spuckst. Du musst den Jungen hier wegbringen und einen Platz finden, an dem du ihn sicher weißt, bevor du stirbst. Daher brichst du mit ihm auf nach Süden. Im Süden sollte es wenigstens wärmer sein…“

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Danach findet man sich auf einer Straße wieder, man spielt in Schulterperspektive. Du hast einen Revolver mit drei Patronen, einen Einkaufswagen mit einigen Dingen, die dir beim Überleben helfen können und einige alte Konservendosen. Daneben, als NPC, dein Sohn. Es gibt eine einzige Statusanzeige, und die ist der Lebensbalken. Dessen maximale Länge reduziert sich mit der Zeit durch die Krankheit und durch Verletzungen, die dich dauerhaft schädigen. Seine Füllung reduziert sich durch Hunger, Durst, Krankheiten, Schlafmangel und ebenfalls Verletzungen. Das Spiel endet, wenn die maximale Länge oder die Füllung auf null gehen. Der Bildschirm wird schwarz, mit der lakonischen Mitteilung: „Du bist tot.“ 

Es bleibt einem selbst überlassen ob man glaubt, dass es wohl für den Sohn reichen wird, um weiterhin zu überleben. Gespeichert wird auf einem Speicherplatz automatisch, und natürlich ist der Tod endgültig. Und zwar wirklich endgültig: The Road erlaubt kein neues Spiel, außer man kauft einen Key für ein neues Spiel für fünf Euro. Als Spieler soll man die Konsequenz spüren. Dadurch wird der alte Spielstand gelöscht. Sollte der Sohn sterben, geht das Spiel trotzdem weiter. Komm damit zurecht!

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Dein Sohn ist die zentrale Figur im Spiel. Er redet mit dir, er reagiert auf jede deiner Taten, er folgt zwar Anweisungen, aber nur, wenn er einverstanden ist. Wenn er das nicht ist, dann versucht er, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn du ihn nicht überzeugen kannst, dann kannst du ihn zwingen, das zu tun, was du willst. Aber du wirst seine Reaktion merken. Es wird sich in eurer Beziehung und der Beziehung deines Sohnes zu Welt ausdrücken. Sein Charakter wird sich deinen Taten entsprechend verändern, er wird Träume haben, die deine Taten und eure gemeinsamen Erlebnisse reflektieren, und wird dir davon erzählen – wenn er will. All dies wird durch das Verhalten deines Sohnes im Spiel gezeigt, nicht durch Statistiken.

Seit wir in diesem verdammten Keller waren, spricht mein Junge nicht mit mir. Er erzählt mir nicht mal mehr seine Träume, aber ich sehe ihn im Schlaf weinen. Er hätte das nicht sehen sollen. Er hätte mich nicht sehen sollen und das, was ich tun musste. Wenn wir es am Abend schaffen, ein Lagerfeuer zu machen, dann werde ich es wieder versuchen. Ich muss ihn aus der Lethargie reißen.

Der Charakter deines Sohnes wird sich deinen Taten entsprechend verändern.

Im Spiel versucht man, sich in einer freien Welt Richtung Süden zu bewegen, ständig auf der Suche nach Essen und Ausrüstung, die spärlich verteilt und gut versteckt sind. Ein Spieltag dauert eine Stunde, je nach Jahreszeit ist es unterschiedlich lange schwarz. Da Aschwolken den Himmel immer bedecken, ist es in der Nacht komplett dunkel, außer man findet eine Lichtquelle oder macht ein Feuer. Das Feuer braucht man auch, um nicht zu erfrieren. Ein komplexes Crafting-System ermöglicht alle möglichen Arten von Bastelarbeiten, von der Lampe bis zum Speer.

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Die Spielwelt hat zwar ein fixes Design, aber bei jedem Spielstart werden einige Orte und Häuser und alle Gegenstände neu in der Welt verteilt. NPCs durchstreifen, ebenfalls zufällig generiert, alleine oder in Gruppen die Welt. Die meisten davon sind feindlich gesinnt - Kannibalen, Räuber, Diebe. Die wenigen neutralen NPCs versuchen sich aus diesem Grund zu verstecken, und man kann nur sehr schwer Beziehungen zu ihnen aufbauen. Und auch diese können versuchen, dich zu bestehlen. Oder bestiehlst du sie? Deine Handlungen haben Auswirkungen auf diese NPCs und die Welt. Hilfst du ihnen, dann überleben sie eventuell länger – vielleicht triffst du sie wieder? Bestiehlst du sie, werden sie höchstwahrscheinlich sterben. Und denk daran, dein Sohn sieht alles und jede deiner Handlungen wird sein Verhalten beeinflussen.

Am Horizont sehen wir eine Gestalt auftauchen.
„Schau mal Papa!“
„Ich sehe ihn. Wir müssen vorsichtig sein.“
„Weil er einer von den Bösen ist?“
„Weiß ich nicht. Kann sein. Gehen wir langsam näher.“
Als wir uns auf Rufweite genähert haben kann ich erkennen, dass dem zerlumpten Mann ein Bein fehlt. Er kommt nur mühsam voran.“
„Können wir ihm helfen Papa?“
„Mal sehen. Bleib du mal hier, ich gehe näher. Halt die Augen offen, ob sich abseits der Straße was bewegt. Es könnte eine Falle sein.“
„Ich hab Angst!“
„Wenn du was siehst, dann rufst du mich und rennst sofort zurück! Hier, der Revolver."
„Ich will ihn nicht!“
„Ich hab dich nicht gefragt, ob du ihn willst. Nimm ihn!“

The Road ist ein Sandbox-Game, welches den Spieler zurückwirft auf das pure Überleben. In einer Welt, in der Moral keine Bedeutung mehr hat versucht der Spieler, seinem Sohn das Überleben zu ermöglichen. Und Überleben muss man nicht nur physisch, sondern auch psychisch  - oder, wenn man so will, mit seiner Seele.

Macht das Spaß? Nein. Müssen Spiele denn Spaß machen?

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