Die Zahl am Ende des Textes - Teil 1

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Die Zahl am Ende von Videospieltexten hat lange Tradition - und man kann durchaus geteilter Meinung sein, ob das so sein soll oder nicht. Darum zwei Texte zu dieser Debatte, und der Gast hat Vortritt: Volker Bonacker über ein daueraktuelles Thema.

Kurz nach der Aufgabe meiner Stelle als freier Journalist wurde ich in einem Interview mit dem Online-Magazin “Negativ” nach meiner Meinung zum Thema Wertungen gefragt. Die Antwort seinerzeit war, dass ich die Sache liberal sehe. Im großen und ganzen bleibe ich auch in diesem Kommentar dabei (tl;dr-Menschen können hier aussteigen), möchte allerdings ein wenig weiter ausholen und erklären, von welcher Position aus ich diesen Standpunkt eingenommen habe. Damit wird die aktuell wieder einmal laufende Debatte um die Frage, ob’s denn sein muss oder nicht, nicht abschließend geklärt, vielleicht aber um einen Farbton reicher.

Anlass ist eine Umstellung beim Online-Magazin “Gameswelt”, dessen Autoren Spiele nicht mehr per Prozentwertung mit 100er-Skala, sondern via Punktevergabe mit 10er-Skala (inklusive 0,5er-Schritten) bewerten. Das hat - wie zu erwarten - Verständnis und Unverständnis hervorgerufen, ausgelöst teilweise auch durch die vollmundige Ankündigung einer “neuen Ära”, die damit einhergehe. Das ist freilich übertrieben, denn das Fachmagazin bleibt, was es immer war: Eine Publikation, die im Servicebereich des Journalismus verortet ist, die kaufberatend vorgeht, vorgehen will, deren Tests den Sinn haben, unentschlossenen Käufern eine Hilfestellung zu bieten. Das bringt den (auch nicht neuen) Vorwurf mit sich, man sähe digitale Spiele als Konsum-, nicht als Kulturgut, man gaukle Scheinobjektivität vor, wo doch Subjektivität das viel mutigere, konsequentere Verhalten einem Kulturgut gegenüber wäre. Wir sehen: Es ist nur noch ein Steinwurf zu “Mehr Geist bitte, liebe Games-Tester” und damit höchste Zeit für einen Cut.

In meiner Zeit als Freelancer habe ich ganz unterschiedliche Formen der Spiele-Berichterstattung kennengelernt. Auch Fachpublikationen. Ich erinnere mich an Diskussionen um die Frage, ob das auf dem Screenshot denn nun ein AK-47-Sturmgewehr sei oder eine AK-47M. Auch daran, eine Prozentwertung unter einen Test gesetzt zu haben, in dessen fünfseitigem Verlauf ich vor allem auf die Features des Spiels eingegangen bin, irgendwo noch die Story unterbrachte und in Boxen erklärte, was es mit Zombie-Modus und Mehrspieler-Features auf sich hat. Es war wichtig, genau vorzugehen, möglichst wenig auszulassen.

Ganz anders im Falle eines General Interest-Mediums. Hier lautete die Zielgruppe nicht “Gamer, männlich, 14 bis 29 Jahre”, sondern möglichst alle. Das brachte eine Schreibe mit sich, die keinen Raum für Fachjargon gelassen hat, keinen Platz für Elegien über Mehrspieler-Features bot, sondern deren Sinn und Zweck es war, kurz und verständlich zu informieren. Wertungen waren zweitrangig und fanden nach Schulnotensystem statt. Rückblickend möchte ich diese Übung nicht missen, sondern jedem angehenden Journalisten nahelegen: lernen, sich kurz zu fassen, sich verständlich auszudrücken, einen Text zu schreiben, der in Sachen Verständlichkeit möglichst niemanden aus- und idealerweise jeden einschließt.

Spieler gehen mit unterschiedlichen Erwartungen an spielejournalisti-sche Erzeugnisse heran.

Es bleibt das “Titel-Magazin” und damit die feuilletonistische Schreibübung, völlig frei von Wertungen, frei in der Gestaltung, gerne Meta, sowieso abschweifend, ein Ort, an dem ich die Texte verfassen konnte, die andernorts nicht gepasst haben. Die Texte, von denen ich im eingangs erwähnten Interview sprach als Stücke, deren Leser aus der Lektüre entnehmen, ob dem Schreiber das Spiel gefallen hat oder nicht, ob es zu ihnen passt oder nicht. Texte, die voraussetzen, dass der Rezipient diesen Gedankensprung vollführen kann und - wichtiger - vollführen will.

Der letzte Punkt und eine Sache, die ich noch ausführen will, sind es, die mich die Sache mit den Wertungen liberal sehen lassen: Spieler gehen mit unterschiedlichen Erwartungen an spielejournalistische Erzeugnisse heran. Viele wollen schlicht nichts anderes als die Zahl, die am Ende des Textes steht. Warum? Weil sie sich davon eine Antwort auf die Frage erhoffen, ob die Investition von 50 oder mehr Euro gerechtfertigt sei oder in Enttäuschung münden könnte. Mir liegen die Zahlen nicht vor, aber ich würde jede Wette halten, dass bei Fachmagazinen im Netz meist der erste Klick, nachdem auf den Teaser eines Tests geklickt wurde, jener auf den Punkt “Fazit” ist. Ich mache das häufig nicht anders. Warum? Weil ich einen kurzen Überblick möchte, eine einfache Einschätzung, ehe ich weiterziehe zur nächsten Seite, um die dortige Einschätzung einzuholen.

Denn letztlich sind beide für mich nicht kaufentscheidend. Empfehlungen über soziale Medien sind die härtere Währung - eine Entwicklung übrigens, deren Auswirkungen dem Fachjournalismus seit Jahren bekannt sind. Blogposts, deren Autor über die persönliche Erfahrung mit dem Spiel schreibt, finde ich abschließend deutlich unterhaltender und fordernder als die Lektüre von Fakten-Aneinanderreihungen. Und trotzdem geht’s nicht ohne.

Denn meine Ansichten zu einem Spiel, denen letztlich eine Kaufentscheidung (nicht) folgt, speisen sich aus unterschiedlichen Quellen. Ich möchte - obschon ich jeder davon unterbewusst eine eigene Wertigkeit zukommen lasse - keine missen. Deshalb kann ich gut mit Medien leben, die Spiele mit Punkten, Prozenten oder Schulnoten bewerten - und damit manchmal (längst nicht immer!) eine andere Einstellung dem Medium gegenüber an den Tag legen, als es viele (längst nicht alle!) Blogger tun. Sie sind eine Facette der Spieleberichterstattung, der man zwar inhaltliche Stagnation vorwerfen kann, die allerdings in den rund 30 Jahren, die seit den ersten spielejournalistischen Gehversuchen mittlerweile vergangen sind, nicht grundlos Bestand hatte.

Dialog ahoi: Meinen eigenen Text zum Thema findet ihr hier.
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