Die Spaziergänger 6: Marginalia

Ist ein Videospiel ein Gegenstand oder ein Ort? Man könnte sagen: beides. Videospiele sind der Ort hinter dem Bildschirm, oder eher: viele Orte. Schöne, faszinierende, banale, unheimliche, außergewöhnliche. In manchen darf man einfach lustwandeln, ohne kämpfen, springen, rätseln, kurz: etwas leisten zu müssen. Man darf in ihnen spazierengehen.

Sebastian Standke und Rainer Sigl machen sich in der Serie Die Spaziergänger abwechselnd auf den Weg; diesmal geht's nach längerer Pause mit Rainer in einen nächtlichen Wald.

Ein nächtlicher Wald, hinter uns der abgestellte Wagen, vor uns - nichts. Auf in die Dunkelheit, die Taschenlampe mit dabei, zum ominösen Sound mit der unnachahmlich flächigen Synth-Ästhetik früher John-Carpenter-Filme. Wir finden einen Pfad, dort vorne leuchtet, wider alle Vernunft, eine Straßenlaterne unter hohen Fichten, und dort beginnt der Erzähler, seine Geschichte auszubreiten. Wir sind auf der Suche nach Eric, der uns überhastet eines Morgens verlassen hat. Was er hier, in diesem dunklen Wald mit sich Stück für Stück, Fragment für Fragment erhellender düsterer Vorgeschichte, gefunden hat, erfahren wir gleichsam im Gehen; als der Weg verschwindet, folgen wir dem seltsamen Licht zwischen den Bäumen.

Irgendwann, am Ende dieser Wanderung, wissen wir alles, und zugleich nichts. Es gibt keine Jump-Scares in diesem "slow burn horror game", doch das heißt nicht, dass es nichts zu fürchten gibt.

Dass Dear Esther so wegweisend für das Genre der Walking-Simulatoren geworden ist, liegt nicht nur an seiner Präsentation, sondern auch an der Qualität seiner Texte. Marginalia ist in dieser Tradition auf gewisse Weise eine perfekt vorgetragene Kurzgeschichte, die durch ihr Erzähltwerden während unserer Wanderung an Struktur und Resonanz gewinnt. Gemeinsam mit dem simplen, aber überaus effektiven Soundtrack verschmilzt das Erzählen mit diesem Ort, der zugleich Kulisse und Schauplatz ist; was erzählt wird, ist einerseits das, was gerade geschieht, andererseits durchwandern wir hier auch als Publikum dieser Geschichte sozusagen eine Erinnerung.

Das ist eine performative Metaebene, wie sie de facto nur das Videospiel einziehen kann: "Many years later, thinking back on this night" - mit dieser Anmerkung wird das Geschehen auf dem Bildschirm von einer mit Off-Stimme unterlegten Erzählung zu ihrer eigenen Reflektion.

Connor Sherlock hat mehr Walking Simulatoren veröffentlicht als jeder andere Indie-Entwickler, die Zusammenarbeit mit dem Autor und Kritiker Cameron Kunzelman gibt seinem gewohnt atmosphärischen Raum eine Erzählung und eine Struktur, die erwandert und erspürt werden kann.

Marginalia ist ein beeindruckendes Stück Atmosphäre, das aus wenigen Elementen großen Effekt generiert. Dass es unsere animalische Angst vor dem dunklen Wald zuerst in kosmischen, dann existenziellen Horror umschlagen lässt, ohne platt zu werden, macht es zum beeindruckenden Erlebnis, das ganz ohne Splatter, Schocks oder sonstige Klischees auskommt. Ein wunderbares Stück Phantastik, in virtuoser Form.

Der Spaziergang: Marginalia , Windows, Mac, Linux, 5 Euro. Anmerkung: Die käufliche Version veredelt das simple Original von 2014 mit besserer Grafik und professionellem Voice-Talent.

Autor: