"Whose bones are on display here?" Ken Baumanns EarthBound

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Gleich zwei Verlage wollen in 2014 eine Lücke in der Diskussion um das Medium Computerspiel schließen: Abseits vom Stückwerk traditioneller Blogs und Zeitschriften suchen sie eine detaillierte Auseinandersetzung mit einzelnen Spielen in Buchlänge. Kickstarter sei Dank konnten Boss Fight Books‘ jüngst das erste dieser Bücher veröffentlichen: Ken Baummans Auseinandersetzung mit dem japanischen Liebling der 16-Bit-Herzen, EarthBound. Das Buch liefert durchaus Erkenntnisse, auch wenn sie weniger Shigesato Itois bescheidenem Meisterwerk gelten als den Chancen und Gefahren des long form criticism von Computerspielen.

Als das Auftaktkapitel von EarthBound vor einigen Monaten auf Kotaku vorveröffentlicht wurde, regte sich Skepsis: Einige originelle Beobachtungen fanden sich durchaus, doch sie drohten zu verschwinden in einer nostalgischen Nacherzählungen von persönlichen Erinnerungen. Baumann schien den Fehler vieler New Game Journalism-Adepten zu wiederholen, die in der radikal egozentrischen und anekdotischen Perspektive den eigentlichen Gegenstand aus dem Blick verlieren. Diese Befürchtung wird, das vorweg, vom fertigen Buch keineswegs widerlegt. Doch die Sache ist, und das ist die Stärke eines auf töneren Füßen gebauten Projekts, doch ein wenig komplizierter.

Tatsächlich ist Baumanns Buch, wie er unumwunden zugibt, aus einer Verlegenheit heraus geboren:

„I realized that so much of the work ahead – presenting the history, mechanics and secrets of EarthBound – had already been done for me. The fan communities, be it Starmen.net or EarthBound Central or independent (and effusive) agents, have amassed a compendium that feels nearly comprehensive.”

In gewisser Weise ist EarthBound tatsächlich ein heikler Kandidat dafür, das Zeitalter der buchlangen Beschäftigung mit Computerspielen einzuläuten.  Shigesato Itoi, der federführende Kopf hinter EarthBound, ist als Kreativ-Faktotum und japanische Über-Prominenz nicht nur selbst eine Kultfigur. Die schräge Trajektorie, mit der er sich dem Medium näherte, sein kindlich-abgründiger Sinn für Humor, und eine Vorliebe für Zitate aus allen kulturellen Schichten prädestinierte überdies auch seine wenigen Ausflüge in die Game-Industrie dazu, Kultspiele zu werden. Die akribische Auseinandersetzung mit den Spielen der Mother-Reihe (deren zweiter Teil EarthBound bildet) in ergebenen Fanzirkeln1  kann also nicht überraschen – aber sie kann jemanden, der über die Spiele schreiben will, tatsächlich lähmen.

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Kommt erschwerend hinzu, dass Baumanns Möglichkeiten beschränkt sind. Er spricht kein japanisch, ihm fehlt Insiderwissen, und er ist auch kein Journalist. Abgesehen von spärlichen Interviews – Baumann unterhält sich mit Marcus Lindblom, dem Verantwortlichen für die Übertragung des Spiels ins Englische – beschränkt sich seine Recherche denn auch auf die Verwendung von Google.
Mit einem Destillat der von Fans geleisteten Vorarbeit will sich Ken Baumann aber dennoch nicht begnügen. Er versucht sich vielmehr an einem eigenwilligen Projekt, irgendwo zwischen dem nostalgischen Reenactement einer Kindheitserfahrung und der unbescheidenen Berufung auf C G Jungs Konzept der „Synchronizität“ – das rein assoziative Aneinanderzwingen von Beobachtungen und Überlegungen also. New Game Journalism-affine Innenschau meets frei flottierende Assoziationen – dies ist tatsächlich Baumann Antwort auf die Frage, wie man über ein Spiel schreibt, über das alles gesagt wurde, und es klingt nach einem desaströsen Rezept. Selbst Baumann gibt sich keinen Illusionen hin über das Potential seiner Methode: „Stuff like this means nothing or it means everything.“, wie er treffend schreibt.

Doch Baumann hat zwei wichtige Argumente: Einerseits ist EarthBound ein Spiel, das in seinem berühmtesten Moment den Spieler, und nicht seinen Avatar, explizit in die Geschehnisse einbezieht. Eine autobiographische Annäherung scheint damit zumindest denkbar. Baumanns zweiter Vorteil ist aber diese Biographie selbst, zu seinem und unserem Glück: Seine Methode macht schliesslich die Qualität des Textes direkt abhängig von der Fülle der Assoziationen, aus denen er schöpfen kann, und aus dem Reichtum der Biographie, auf der er sich bezieht. Was EarthBound letztlich vor dem Scheitern bewahrt, ist tatsächlich letzteres.

Baumanns Buch ist nicht zuletzt The Story of Ken Baumann, die als solche aber glücklicherweise einnehmend genug ist: aufgewachsen in der Provinz in familiären Verhältnissen von der zähen Stabilität eines überdehnt-zuschnappenden Gummibandes, erzwungenermaßen reich und berühmt geworden durch einen Platz an der künstlichen Sonne der amerikanischen Unterhaltungsindustrie, hat Baumann, zwischenzeitlich auch noch fatal erkrankt und teilweise wieder genesen, tatsächlich etwas2, das den meisten 24-jährigen abgeht: Viel zu erzählen.

Fast immer, wenn Baumanns Prosa droht, ins Beliebige oder Triviale abzudriften, kommt ihm seine Biographie zu Hilfe.

Das heißt nicht, dass Baumann nicht auch zeitweise scharfe Beobachtungen im weiteren Umfeld seines Gegenstandes gelingen würden. Seine Kenntnis von Grafikdesign fließt etwa immer wieder ein3 und seine Verortung von EarthBounds legendärer Vermarktung via Stinkekarten in einer “American booger culture”4 ist ebenso einleuchtend wie die Verkündung von „Job’s Law“5. Dennoch erreicht Baumann nur in Ausnahmefällen den Witz, die sprachliche Qualität oder die Hellsichtigkeit, die etwa Tom Bissells Extra Lives – Baumanns erklärtes Vorbild – durchzieht. Als Leitfaden seiner Kritik findet er etwa nichts Besseres als den kindheitsbeschwörenden Durchgang nachzuzeichnen – ein Unternehmen, das öfters abdriftet in eine reine Nacherzählung der Handlung, die zu detailliert ist für Kenner und zu vage für diejenigen, die EarthBound nie gespielt haben.6

Doch fast immer, wenn Baumanns Prosa droht, ins Beliebige oder Triviale abzudriften, kommt ihm seine Biographie zu Hilfe. Anekdoten über die bizarre Zusammensetzung seiner Familie, die noch bizarrere Existenz einer Art Asylheim für arbeitssuchende Hollywood-Kinder, oder das Leben als Fremder in der Traumfabrik – sie allein könnten zwar, ebenso wenig wie die oftmals offensichtlich angegoogelten Zufallsinformationen zum Spiel, kein Buch tragen. Doch der Pendelbewegung, in der scheinbar flache Randbemerkungen („I’m sad that most video games are completely heteronormative“) nach seitenlangen Exkursen zu Baumanns Leben immer wieder rückgebunden werden an das Spiel, hat durchaus etwas Hypnotisches.

Natürlich bedeutet es aber letztlich auch, dass man nach der Lektüre von EarthBound ebenso viel über Ken Baumann erfahren hat wie über das titelgebene Spiel.7 Darauf muss man sich nicht einlassen wollen. Man kann es aber durchaus, dieses eine Mal. EarthBound ist, und Boss Fight Books täten gut daran dies mantramäßig zu wiederholen, eine Ausnahmeerscheinung, ein Experiment, das aufgrund besonderer Umstände einigermaßen geglückt ist. Es taugt für einen Lektüreabend. Als Vorbild für einen long form criticism von Computerspielen taugt es dagegen entschieden nicht.