System Failure

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Digitale Spiele sind seit ihrer Geburt quer über verschiedene Computersysteme und Plattformen verteilt. Das sorgt für fragmentiertes Wissen innerhalb der Gamer-Gemeinschaften und fördert die eingeschränkte Wahrnehmung von Videospielkultur.

„Back in 1982, the kids rooted for the Intellivision. It was like it was their sports team, like they had a rooting interest in Mattel’s profits. Because that was the system they had invested their money in and it was almost like they were stockholders in the company. And then there were the Atari people. If the game didn’t appear on an Atari sytem, they’re not gonna talk about it. That kind of small mindedness just seems so silly to me.“

Der im September 2011 zu früh verstorbene Bill Kunkel war Mitbegründer des ersten US-amerikanischen Videospielmagazins „Electronic Games“ im Jahr 1981 und damit einer der ersten westlichen Games-Journalisten überhaupt. „Electronic Games“ war eine Pionierpublikation und ihr Team somit frei in der Wahl der inhaltlichen Ausrichtung. Konkurrenzblätter, deren Blattlinie man kopieren hätte können, gab es nicht. Die Leser waren unvorbelastet von mit Zahlen und Auflistungen durchtränkten Spielerezensionen.

Bevor Bill Kunkel für digitale Spiele Begeisterung entwickelt hatte, war er Wrestling-Journalist und Comic-Autor, hatte also mit Technik und Computern nichts am Hut. Dieser Zugang passte zur damaligen Wahrnehmung von Videospielen, denn diese waren in großen, bunt bemalten Holzautomaten ausgestellt und standen in Spielhallen. Dass hier komplexe Technik in Form von Computerplatinen und Bildschirmen am Werk war, sollte dabei möglichst gut kaschiert werden. Stattdessen ging es um ein Eintauchen in faszinierende, leuchtende, blinkende Spielewelten. Die Heimkonsolen für Wohn- und Kinderzimmer Anfang der 1980er waren dagegen nur ein müder Abklatsch der aufregenden Neuerscheinungen in der video arcade, sowohl, was das Aussehen der Geräte betrifft, als auch hinsichtlich der technisch minderwertigen Umsetzung der Spielhallenoriginale. So nahm sich „Electronic Games“ vornehmlich dem Markt der Videospielautomaten an.

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Aus der Arcade ins Wohnzimmer

Doch die Arcades waren nur der Ausgangspunkt, quasi der größte gemeinsame Nenner aller Gamer. Auf die Attraktivität und Ausstrahlungskraft von Videospielautomaten konnte man sich einigen. Trotz der Arcade-Euphorie wurden Konsolenspieler und Besitzer/innen von Handheld-Geräten von „Electronic Games“ aber nicht vor der Tür stehen gelassen. Die Anschaffung von Gaming-Gadgets für daheim war bloß der nächste logische Schritt, wenn man seine Spielepassion einen Schritt weiter bringen wollte. Bill Kunkel und seine Partner wären zur Blütezeit des ersten Videospielhypes nicht auf die Idee gekommen, Videospielen technisch zu begegnen und sie einzelnen Computersystemen zuzuordnen. „Electronic Games“ sah sich in der Tradition eines Popmusikmagazines. „We could afford to treat games the way ‘Rolling Stone’ magazine would treat the latest album by the Rolling Stones or The Clash or whoever“, so Bill Kunkel in einem Interview im Jahr 2006.

„We could afford to treat games the way ‘Rolling Stone Magazine’would treat the latest album by the Rolling Stones or The Clash or whoever“

Doch „Electronic Games“ blieb eine Rarität, das Schreiben über Videospiele wurde bald in den  Computer- und IT-Journalismus integriert, wo es für die nächsten 20 Jahre bleiben sollte. Als die Arcades zunehmend verschwanden, war auch lange keine Alternative dazu in Sicht. Die unterschiedlichen Heimcomputer und ihre Geeks, die stundenlang an Konfigurationen und Programmcodes feilten, ersetzten Mitte der 1980er die hedonistische Highscore-Jagd in der Spielhalle. Statt Space Invaders regierte nun der Flugsimulator, auf frenetische Reaktionstests folgten kontemplative Grafikabenteuer.  Wer spielen wollte, musste sich nun mit den jeweiligen Geräten und ihren technischen Anforderungen zumindest grundlegend beschäftigen. Die Wahl des Heimcomputersystems war schwierig, und hatte man sich mal entschieden und gelernt, einigermaßen mit seinem System umzugehen, blieb man vorerst gerne mal dabei.

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Ein paar Jahre später bekamen die grauen Heimcomputer bunte Konkurrenz. Die Konsolen erwachten langsam wieder, nun sogar weitgehend ohne die großen Spielhallenautomaten als Begleitschutz. Die Geräte Nintendo Entertainment System, Sega Master System und später Super Nintendo und Sega Mega Drive rückten grelle Farben und unmittelbare Spielerlebnisse wieder in den Vordergrund, machten jedoch die Auswahl eines Spielesystems noch schwieriger. Die Klischees des dummen Konsolenspielers und des arroganten Computernerds hatten einen perfekten Nährboden gefunden, der heute bloß deshalb abgeschwächt ist, weil Computer- und Konsolensysteme hinsichtlich Architektur, Funktionalität und Spiele-Portfolio stärker zusammengewachsen sind.

Anfang der 1990er Jahre spitzte sich die Systemtrennung weiter zu. Viele Fachzeitschriftenverlage spalteten jene Magazine, die vormals Computer- als auch Konsolensysteme abdeckten, in je zwei Objekte auf. Die nun getrennten Leserschaften und Lager hatten danach immer weniger Interesse aneinander und an den Spieletitel der jeweils anderen. Eine kleine Erleichterung im Durcheinander schaffte nur der DOS- und später Windows-PC, der Mitte der 90er alle anderen Computersysteme als Spielgeräte weitgehend übertrumpft hatte.

New Games Journalism

Nach einer langen Durststrecke stellen Mitte der 2000er die Briten den inzwischen fast völlig zur erweiterten Produktbeschreibung verkümmerten Spielejournalismus wieder in einen vernetzten und kulturell relevanten Kontext. Der Journalist Kieron Gillen ruft im Jahr 2004 den sogenannten „New Games Journalism“ aus, der Erzählung und Emotionen in den Vordergrund einer Spielebesprechung stellt – ein Prinzip, dem sich auch die ansonsten traditionell ausgerichtete Games-Website Eurogamer.net beim Aufbau und Stil ihrer Texte bis heute annimmt. Doch die neue Bewegung hat es schwer.

Die alte Konkurrenzsituation der Systeme bleibt in den Köpfen vieler Autoren und Spieleenthusiasten weiterhin bestehen

Die fragwürdige Tradition, Computer- und Videospiele in ihre technischen Einzelteile zu zerlegen und sie anhand von Zahlen und Statistiken zu bewerten, sitzt tief. Ebenso prägend ist die mitterweile traditionelle Trennung von PC- und Konsolen-Gemeinschaften. Obwohl seit einigen Jahren auch Tageszeitungen, General-Interest-Zeitschriften, Kulturfachmagazine, intellektuelle Gaming-Websites und schlaue Blogs digitale Spiele publizistisch in einer verblüffenden Vielfalt abbilden, bleibt die alte Konkurrenzsituation der Systeme in den Köpfen vieler Autoren und Spieleenthusiasten weiterhin bestehen. Die Marktteilnehmer der Games-Industrie setzen sowieso auf ihr jeweiliges Spielkonsolensystem: Erfolgreich wird das selbe Marketingpferd wie in den frühen 80ern bedient, wo man mit Exklusivtiteln die eigene Marke hochleben und die Konkurrenz alt aussehen lässt. Was früher Atari versus Intellivision war, ist heute Microsoft gegen Sony.

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Balkanisierung der Spielewelt

Das größte Opfer dieser Politik sind die Spiele an sich und die Konsumenten, die sich im Regelfall selten mehr als ein oder höchstens zwei unterschiedliche Spielsysteme leisten können. Wer „LittleBigPlanet“ spielen möchte, kommt um eine PlayStation 3 nicht herum, wer „Halo“ toll findet, muss eine Xbox 360 anschaffen. Es wäre so, also bräuchte man für das Konsumieren von Büchern unterschiedliche Lesegeräte. Heute sind zwar nicht mehr ganze Videospielgattungen entweder Computer oder Konsole zugeordnet wie noch vor 20 Jahren. Aber das ist nur ein schwacher Trost, wenn man durch hohe technische und finanzielle Einstiegshürden daran gehindert wird, ein Kulturprodukt entdecken und genießen zu können.

Viele Spieler geben angesichts der Fülle und Vielfalt des Mediums klein bei und legen resignativ die Scheuklappen an

2012 ist die Vielfalt digitaler Spielkultur größer als je zuvor, schier unüberschaubar. Neben mehr oder weniger aufwändigen Videospielen für Konsolen und Windows-PC in allen Preiskategorien, buhlen auch Social Games, Casual Games und Indie Games im Browser, auf Facebook, am Smartphone, am Handheld und am Tablet um unsere Aufmerksamkeit. Viele ehemalige Freigeister der Spielkultur geben dieser Fülle und Vielfalt klein bei und legen resignativ die Scheuklappen an. Prioritäten müssen her: Was nicht mehr ins persönliche Kernschema passt und wofür keine Zeit bleibt, wird ausgeblendet. So lädt sich die eine nur noch Indiespiele am PC herunter, der andere spielt bloß noch Kriegsshooter auf der Konsole seine Wahl und jemand dritter ist mit dem ausufernden Angebot an iOS- und Android-Spiele-Apps mehr als ausgelastet. Diese freiwillige Beschränkung ist einerseits verständlich, und doch ist das pragmatische Selektieren von bloßen Ausschnitten zeitgenössischer Videospielkultur in Anbetracht ihrer allgemeinen Vielfalt unzufriedenstellend.

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Künstliche Hürden

Ungeachtet dieser Selbstbeschränkung könnte Mitte der 2010er-Jahre zumindest der Knoten des Systemchaos gelockert werden, wenn Technik und Rechenkraft dann weitgehend in der Cloud ausgelagert sein werden. Serverfarmen und hochgezüchtete Remote-Rechner werden uns den Kauf von teuren Spielkonsolen und Grafikkarten zukünftig wohl weitgehend ersparen. Doch schon jetzt ist absehbar, dass sich eine ähnliche Konkurrenzsituation herauskristallisieren wird, wie sie aktuell noch mit den Konsolenherstellern besteht. IT-Riesen werden für ihre proprietären Cloud-Dienste und –Marken Exklusivangebote aushandeln und so erneut künstliche Hürden schaffen, die den Zugang zu digitalen Spielen für viele potenziell interessierte Menschen schon seit Jahren so unattraktiv machen.

Eine Barriere ist hingegen schon heute durchbrochen: die des Preises. Die Revolution der kostengünstigen Apps hat nicht nur aus Telefonbesitzern interessierte Computeruser gemacht, sondern auch aus vormalige Nichtspieler/innen bekennende Gamer. Wenn nun auch noch die Geräte und Dienste billiger werden, haben wir keine Ausrede mehr, uns der Vielfalt völlig zu verschließen. Dann dürfen wir unserer Neugierde gegenüber Videospielen endlich auch systemübergreifend freien Lauf lassen.

Dieser Text erschien zuerst im Print in WASD #1.

 
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