Spiel des Monats: Der Mythos des Sisyphos
Sisyphos hatte einen ähnlichen Job. Statt immer wieder die gleiche Treppe hoch zu laufen, musste er einen Felsbrocken einen Berg hinaufwälzen. Jedes Mal, wenn er oben angekommen war, rollte die Kugel wieder runter. Er war ob seines Hochmuts von den Göttern verflucht worden. Diese Geschichte ist wohl die bekannteste, bei der ein Mensch für seine Übertretung der göttlichen Regeln zu ewiger Mühsal verflucht wurde.
Aber auch der alttestamentarische Gott verbannt Adam und Eva aus dem Paradies und verflucht den Mann, unter Mühsal dem Ackerboden das Essen zu entreißen, und die Frau, unter Schmerzen und Mühsal Kinder zu gebären, bis sie als Staub zu dem Ackerboden werden, aus dem sie erschaffen sind. Das mythologische Leben des Sisyphos wie auch das der Nachkommen Adams und Evas ist eine immer wiederkehrende Plackerei nach dem gleichen Muster: Mühsal und Leid.
Dark Souls - beispielhaft für die Werke von From Software - wirkt zunächst auch wie Sisyphosarbeit: schwer zu erlernen und durch mühevolle, wiederkehrende Muster geprägt. Bloß: Niemand hat mich verflucht, es zu spielen. Es ist auch keine Strafe irgendeines Gottes. Warum sitze ich also Abend für Abend und wiederhole Abläufe, Bewegungen und Muster? Warum präge ich mir Reaktionszeiten und Bewegungsfolgen ein? Warum nehme ich Sisyphos’ Fluch freiwillig auf mich?
Albert Camus deutete den Sisyphosmythos in seinem Werk der frühen 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts so: “Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen… Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Mann vorstellen.” Hat der moderne Mensch sich in Camus’ Augen vom Fluch der Götter gelöst?
Die klassisch antike wie auch die biblische Geschichte vom Zwang der Mühen entstammt ganz dem Alltagserleben damaliger Menschen. Ein Leben, dessen Verlauf meist mit der Geburt vorgezeichnet war und größtenteils daraus bestand, sich Tag für Tag abzumühen, um dem allgegenwärtigen Tod zu entkommen. Knappe Ressourcen mussten der Natur mit größter körperlicher Anstrengung entrissen werden. Der Tod durch Krankheit war in Zeiten vor der Erfindung von Impfungen und Antibiotika allgegenwärtig. Zudem kamen Kriege und Machthaber wie Seuchen über das Land und zerstörten oft die Aussicht auf ein stabiles Leben. In einem Alltag geprägt davon, fundamentalste Bedürfnisse - Nahrung, Kleidung, Schutz - zu erfüllen, boten absolute Deutbarkeit und Vorbestimmung eine gewisse Art von Sicherheit.
Alternative Modelle zur Lebensführung der Eltern oder Nachbarn gab es damit nicht. So stellte sich das Leben wie ein mit der Geburt auferlegtes Schicksal dar, dem nur der Tod ein Ende bereitete. In diesen Kontext passt die klassische Erzählung von immerwährender Mühe als Fluch der Götter. Eine höhere Macht hat mein Leben gezeichnet und unter deren wachsamem Auge muss ich mich abplagen, um zu überleben.
Nicht dass wir in unserer modernen Welt keine Mühen hätten. Nur muss ich - dank moderner Antikonzeptiva und PDA - keine Kinder unter Schmerzen gebären, noch müssen die heutigen Männer - dank Dieselmotoren und Kunstdünger - dem Ackerboden seine Frucht im Schweiße ihres Angesichtes entreißen. Die meisten von uns schwitzen heutzutage eher im Fitnessstudio. Welcher Arbeit ich nachgehen will und wie ich meinen Lebensunterhalt verdienen werde, kann ich mir aus einer unübersichtlichen Zahl an Möglichkeiten aussuchen. Ich mag nicht für alles geeignet sein und für Vieles mögen mir der Sinn oder die Mittel fehlen. Dennoch musste ich nicht wie meine Mutter Buchhalterin werden. Meine Tochter wird sich nicht mit dem Schreiben von Texten abmühen müssen, wenn ihr nicht danach ist. Unsere Lebensführung war nicht mit unserer Geburt festgelegt worden. Tod und Krankheit haben wir bis auf tragische Ausnahmen auf ein fernes Lebensende verschoben. Gemessen an der Geschwindigkeit in der sich unsere Lebenswelt verändert, erscheint mir das Leben meiner Eltern geradezu steinzeitlich, das meiner Großeltern prähistorisch. Ich habe nicht den blassesten Schimmer wie das erwachsene Leben meiner Tochter aussehen wird. Umso weniger kann ich ihr allgemeingültige Deutungswahrheiten anbieten.
Unsere Mühen sind kein von außen auferlegter Fluch sondern Teil des modernen, selbstzubestimmenden Lebensweges. Wer anderes behauptet, bekommt von seiner Umwelt eine Opferhaltung attestiert und ein Selbsthilfeprogramm zum Empowerment empfohlen. Vorbestimmung, Sinn und Deutungsansprüche hängen nicht absolut über der Welt, in die wir hineingeboren werden. Unsere Qual besteht eher darin, selber Sinn stiften zu müssen. In diesem Sinne ist uns gänzlich modernen Menschen - wie er es auch Camus war - Sisyphos ein glücklicher Mann. Er muss seinen Sinn nicht suchen. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.
D ark Souls verdeutlicht diese selbstgewählte Mühe als Symptom der modernen Sinnsuche und des Sinnstiftungsgebots wie wenige andere Spiele. Das Videospiel an sich ist schon eine absurde Art der Mühsal. In immer wiederkehrenden Sitzungen wiederhole ich die gleichen Muster, um mir wiederum Muster zu merken, damit ich anschließend an einer virtuellen Herausforderung scheitere, die mir im “echten” Leben überhaupt nichts bringt. Weder kann ich damit Ressourcen oder Güter anhäufen, noch verschafft mir das Spiel irgendwelche Vorteile in der Welt “da draußen”. Wie jede Art der Unterhaltung, ist die Freude an der virtuellen Auseinandersetzung in Dark Souls nur in der virtuellen Welt erlebbar. Die selbstgewählte Mühsal des modernen Menschen könnte nirgendwo so deutlich zu Tage treten wie hier. Während der Zugang zu Filmen, Musik oder Büchern mir relativ wenige Hürden in den Weg wirft, bedarf es für die Einarbeitung in ein Spiel wie Dark Souls einiges an Aufwand. Ich lerne, mühe mich ab und scheitere an etwas völlig Nutzlosem. Ich habe Freude an dieser Mühe, eine Freude, die nur bei mir bleibt, ganz privat wirkt.
Camus hatte recht: Der Kampf gegen Gipfel vermag mein Herz auszufüllen. Ich bin in meiner selbstgewählten Mühsal ein glücklicher Mensch.