Spiel des Monats: Ahnenforschung im Traumschloss
Und in dieser Erzählung lassen sich als Urahnen von Yorda und Ico Die Hirtin und der Schornsteinfeger in Hans Christians Andersens gleichnamigen Märchen ausmachen Andersen erzählt mit feinem Humor die Geschichte dieser zwei Porzellanfiguren, die in einer Fügung des Schicksals nebeneinander abgestellt wurden und sich, nicht zuletzt aus Mangel an Alternativen, ineinander verlieben. Als ein groteskes, geschnitztes Wesen seinen Anspruch auf die Hirtin laut zu machen beginnt, beschließt das Liebespaar, das Heil in der gemeinsamen Flucht zu suchen. Doch nach einem beschwerlichen Abstieg vom Tisch und einem Aufstieg durch den Kamin auf das Dach erkennt die Hirtin, dass die weite Welt zu ungeheuerlich für sie ist, verflucht die Abenteuerlust ihres Liebhabers, und überredet ihn, wieder in die vertraute Enge der Kunst- und Kitschsammlung zurückzukehren.
Am Ende gibt die Schnitzerei zwar notgedrungen ihren Anspruch auf die Hirtin auf und beschert dem Porzellanpaar damit ein vordergründig glückliches Leben. Aber selbst dieses vermeintliche Happy End ist dadurch gebrochen, dass es wortwörtlich ein Nebeneinanderher-Leben zweier festgefahrener Figuren ist: Die Hirtin und der Schornsteinfeger bleibt ein in sich verkehrtes Märchen, mit einer gedämpften Abenteuerlust und einer verkitschen Liebe, die groß und großartig nur in einer Welt wirken kann, die auf einem einzigen Tischblatt Platz hat.
Das Erdgeschoß
Folgt man ICOs Ahnenreihe eine Generation weiter bis ins Jahr 1946, faltet sich die Welt zwischen Tisch und Kamin plötzlich auf um hundert schräge Stockwerke und tausend schiefe Winkel. Dass Andersens minimalistisches Märchen nicht ohne gehörige Verschiebung der Proportionen in einen Spielfilm umgewandelt werden konnte, musste dem französischen Regisseur Paul Grimault und seinem Freund, dem Schriftsteller Jacques Prévert, von Anfang an klar gewesen sein. Und tatsächlich war La Bergère et le Ramoneur nie als etwas Geringeres denn als ein Werk für die Geschichtsbücher konzipiert: Der erste abendfüllende Animationsfilm aus Frankreich sollte es werden, ausgeführt mit einem für damalige Verhältnisse unerhört großen Team – eine europäische Antwort auf die Disney-Studios, die nach ihrem die Kunstform erschütternden Dreierschlag von Pinocchio, Fantasia und Dumbo gerade kreative Luft holten für den überdimensionierten Cinderella, der das Ende der ersten Goldenen Ära des Studios einläuten sollte.
Doch Grimault und Prévert wollten mit dem amerikanischen Titanen nicht einfach gleichziehen, sie wollten eine neue Art von Animationsfilm produzieren, der in Allegorien nicht nur zu Kindern sprechen und nicht zu den historischen Umwälzungen schweigen musste. Und so ersetzten sie den geschnitzten Schwerenöter aus Andersens Geschichte durch einen schnurrbärtigen Despoten, der die Hirtin und den Schornsteinfeger quer durch ein gewaltiges Schloss verfolgt, in dem kein Leben mehr Platz findet außer einer endlosen Reihe instrumentalisierter und identischer Polizei-Soldaten.
La Bergère et le Ramoneur war, mit anderen Worten, ein gewollt überdimensioniertes Projekt – wie monströs es aber schließlich werden sollte, hatten weder Grimault noch Prévert vorhersehen können. Nachdem der Film schon mehrere Jahre in Produktion war, wurden den hochfliegenden Ambitionen unversehens die Beine weggetreten, als Grimault von der Produktion seines eigenen Films ausgeschlossen wurde. Die verstümmelte Version, die das Studio in Eigenregie fertigstellte und 1953 unter dem Titel La Bergère et le Ramoneur in die Kinos brachte, wurde von Grimault und Prévert nicht als ihr eigenes Werk anerkannt.
Der nächste, entscheidende Schritt in dieser Entstehungs- als Leidensgeschichte, neben der die Entwicklung von The Last Guardian geradezu unverkrampft wirkt, trat mit der Freigabe der Rechte Ende der 60er-Jahre ein. Grimault kaufte sie auf und kämpfte rund zehn weitere Jahre um eine Finanzierung, bis er den Film im Jahr 1979 endlich fertigstellen konnte gemäß der Vision, die er und der zwischenzeitlich verstorbene Prévert mehr als 30 Jahre früher entworfen hatten. Im Vergleich zu La Bergère et le Ramoneur war der Film aber um 45 Minuten gewachsen, in denen sich die Balance verschoben hatte: Weg von der Hirtin und dem Schornsteinfeger, die letztlich eher eine Rolle als Katalysator der Handlung einnehmen, und hin zum Tyrannen und seinem neuen vorwitzigen Gegenspieler, die dem Film auch seinen neuen Titel geben sollten: Le Roi et l’Oiseau.
Der Erfolg war spät, aber verdient: die Zuschauerzahlen in Frankreich waren, so Grimaults eigene Einschätzung, höchst befriedigend. Dass der Film seinen Anspruch, ein Werk für die Geschichte zu sein, auch tatsächlich einlösen konnte, zeigt sich unter anderem darin, dass er mittlerweile bereits zweimal restauriert und mehrfach in die Kinos geschickt wurde. Außerhalb Frankreichs jedoch zeichnet sich ein etwas anderes Bild, das den Film auch in einer weiteren Hinsicht zu einem klaren Vorgänger ICOs macht: Er ist einem breiteren Publikum weitgehend unbekannt. (In der englischsprachigen Welt ist er sogar bis heute nicht auf DVD oder BluRay erschienen.) Doch wie beim Erstling von Team ICO, dessen kaum zu unterschätzende Nachwirkung diese Woche bereits mehrfach auf Videogame Tourism thematisiert wurde, steht dieses Desinteresse in keinem Verhältnis zum Einfluss, den Le Roi et l’Oiseau in all seinen Erscheinungsformen auf die richtigen Leute ausüben sollte.
Isao Takahata etwa betont oft und gerne, dass La Bergère et le Ramoneur“ ihm als jungen Mann die Augen öffnete für das, was im Animationsfilm überhaupt möglich sei – eine Begeisterung, die er mit Yasuo Otskuka teilte und laut Aussage der beiden maßgeblich dazu beitrug, dass sie später gemeinsam mit einem weiteren japanischen Zeichner namens Hayao Miyazaki ein Studio unter dem Namen Ghibli gründen sollten. Tatsächlich ist der Einfluss von Grimaults *magnus opum auf die Filme Miyazakis unverkennbar: Die visuelle Gestaltung des Roboters in Laputa etwa ist unverkennbar beeinflusst von der Vernichtungsmaschine, die sich am Ende von Le Roi et l’Oiseau gegen den König wendet, und im titelgebenden Schloss des Cagliostro ist die Baukunst der unwahrscheinlichen Trutzburg des Tyrannen gespiegelt.
Tatsächlich ist es dieser letzte, heimliche Protagonist, der mehr als der König und der Vogel, mehr als die Hirtin und der Schornsteinfeger, das eigentliche Erbe Grimaults darstellt. Diese über 256 Stockwerke führende, so elegante wie irre Architektur des zentralen Schauplatzes mit seinen zahllosen Fluchten, wechselnden Perspektiven, mit seinen Erkern und ganz und gar halsbrecherischen Treppenanlagen. Es ist eine würdige Repräsentation der verstörten Psyche eines so einsamen wie selbstverliebten Herrschers, der Nichts in der Welt sehen will, außer sein Antlitz, gespiegelt in unzähligen und über den Verlauf des Films zunehmend lächerlichen Statuen seiner selbst.
Und es ist zugleich eine visuelle Chiffre für die Megalomanie und den Machthunger dieser lächerlichen Figur, die ihrem Schloss einverleibt, was immer ihr flüchtiges Interesse weckt: Das Schloss des Königs ist nicht zuletzt ein Sammelsurium architektonischer Highlights aus allen Epochen der Kunstgeschichte, die nicht zusammenpassen oder -gehören wollen, aber von der Herrschsucht ihres Königs in eins gezwungen werden. Und im Untergrund lauert all das, was der Despot aus den Augen verlieren will. Die Resultate seiner Willkür -- die in den dunklen Untergrund und eine Welt aus stampfenden Maschinen getriebene Bevölkerung. Das Schloss ist, mit anderen Worten, eine ganz und gar fantastische Schöpfung, und das, was jedem Zuschauer von Le Roi et l’Oiseau am lebendigsten in Erinnerung bleiben wird.
Der Turm
Einer dieser aufmerksamen Zuschauer war Fumito Ueda. Als Absolvent einer Kunsthochschule, an der er abstrakte Kunst studierte, wurde Ueda zweifelsohne einer Fülle von Inspirationsquellen ausgesetzt, von denen er einige auch wiederholt beim Namen genannt hat: Anstatt sein Team kostspielig nach Europa zu schicken, um vor Ort Schlossarchitektur zu studieren, zeigte er ihnen die Gravuren von Gérard Trignac. Und der Einfluss des italienischen Surrealisten Giorgio de Chirico wird allerspätestens in der Gestaltung der japanischen Verpackung derart offensichtlich, dass Ueda diese Linie nicht erst explizit in Interviews genannt haben müsste.
Dass die Traumarchitektur de Chiricios erklärtermaßen auch eine Inspirationsquelle für Grimault war, heißt aber nicht, dass Le Roi et l’Oiseau aus ICOs Ahnenreihe gestrichen werden kann. Vielmehr wirkt Uedas erstes Meisterwerk wie eine Rückkehr zu dessen eigenen Wurzeln: Die sprachliche und inhaltliche Komplexität, mit der Grimault und Prévert Andersens Erzählung in etwas sehr Eigenes und vor allem auch sehr Anderes verwandelten, an dessen Ende die ursprünglichen Protagonisten kaum mehr Platz haben, wird von ICO wieder zurückgedreht: Ein Junge, ein Mädchen, ein Antagonist, und die Flucht – dies sind die simplen Pfeiler von Die Hirtin und der Schornsteinfeger. Es ist auch alles, was ICO braucht. Auf dem Weg zum Spiel streift es sogar noch Andersens Ironie ab: Ueda meint es ernst, was im ironieübersättigten 21. Jahrhundert zweifelsohne eine richtige Entscheidung war.
In der Zeichnung der auf nur scheinbar verletzlichen Figuren, in ihrer übermenschlichen Anmut – bei Grimault sind es überzeichnet schöne Gemälde statt Porzellanfiguren, die zum Leben erweckt werden, und auch bei Ueada ist ein Hang zum Idealen unverkennbar – und ihrer schier märchenhaften Gewandtheit aber ist Ico sehr nahe bei Le Roi et l’Oiseau. Und es macht Sinn, dass Ueda, der laut eigener Aussage von Kindheit auf fasziniert war von der Bewegung von Menschen, Grimaults in Animation – in Bewegung also – versetzte Aneignung der geteilten Vorbilder sehr genau studierte.
Der Einfluss ist letztlich aber auch in der Gestaltung des Schlosses erkennbar, von dem Ueda sagt, dass es von Anfang an als eigenständiger Charakter behandelt wurde. Über die Architektur dieses Schlosses wurde viel geschrieben, aber was aus heutiger Sicht vermutlich am bemerkenswertesten ist, ist, wie wenig es ein Computerspiel-Raum ist. Es gibt erstaunlich wenig unsichtbare Wände, und kaum übersignalisierte Wege und Routen: jeder Sims in Reichweite ist erklimmbar, auch wenn das Ersteigen nirgendwohin führt, Orientierung wird nicht gestiftet, sondern im Begehen mit seinen überweiten Ausblicken auf das Kommende und das Gekommene erlernt. Es wird auch kaum Rücksicht genommen auf übliche Leveldesign-Weisheiten: das mit dem östlichen und westlichen Observatorium zwei beinahe identische Räume durchschritten werden müssen, ist unter dem Diktat endlosen Spaßes vielleicht unverzeihbar – aber, wie das Edge-Magazin einmal festgehalten hat, hat diese Symmetrie einen viel wichtigeren Effekt: Sie macht das Schloss bei aller fantastischen Architektur glaubwürdig.
Glaubwürdigkeit ist aber nicht gleichzusetzen mit Sinn. Ueda erklärte in einem Interview die Faszination verfallener Gemäuer zwar, dass sie Zuschauer zwinge, die vergangene Zeit in ihrer Fantasie zu rekonstruieren. Beim Schloss von ICO scheint dieses Unternehmen aber buchstäblich ins Leere laufen zu müssen: ein Gebäude, das aus nichts als endlos weiten Hallen, unmöglich langen und unsicheren Verbindungsstegen und in den Himmel aufragenden Türmen zu bestehen scheint, lässt sich schwer mit Leben füllen. Um eine weitere und letzte Linie von Werk zu Werk zu ziehen: Die Novelization des Spiels – auch sie eine Ausnahmeerscheinung: Sie ist nicht als erweiterte Marketingmaßnahme von einem angeheuerten Schnellschreiber rausgehauen worden, sondern wurde von der respektierten japanischen Autorin Miyabi Miyuki als Herzensprojekt eigenständig verfasst. Miyuki bemüht sich sehr darum, die Lücken in der Erzählung zu schließen, die Uedas Spiel lässt. Doch gerade dort, wo sie Yordas früheres Leben zu rekonstruieren versucht und der Architektur des Schlosses einen Zweck geben will, scheitert sie mal um mal und kommt nicht viel weiter, als den Räumen eine zeremonielle Funktion zuzuschreiben.
Aber vermutlich ist es letztlich genau dies, was dieses Schloss so außerordentlich in jedem Sinn macht: Es genügt sich damit, märchenhaft zu sein. Ein Objekt, das Staunen und Schwindel und Furcht erregt. Und vielleicht zeigt sich hier die Verwandtschaft mit Le Roi et l’Oiseau deutlicher als irgendwo sonst: Die Konstruktionen in ihrem Zentrum wurden geschaffen im Wissen darum, dass sie weder Sinn noch Zweck zu haben brauchen – oder jedenfalls keinen anderen als den, dazustehen als ein Monument und eine Reflektion des Willens von zwei mal zwei eigenwilligen Schöpfern: dem liebestollen König und dem überambitionierten Schwärmer Grimault auf der einen Seite, und der Schattenkönigin und dem stillen Fantasten Ueda auf der anderen.
Dass ihre beiden Schlösser auch zu historischen Landmarken werden sollten, ist da nur folgerichtig: Alle Macht den Träumern. Und alle Macht ihren Luftschlössern.