Spiel des Monats: Home Is Where The Heart of Your Stories Is

The inventory of the world, the mapping of its surface, from Timbuktu to Tahiti, marked the end of all hope. The pilgrimages and voyages to the Fortunate Isles have the same goal: to find for this life a haven of grace. When the hope of paradise is banished from this life, and when we are irredeemably doomed to fail, then, like a collective dream that would take this roundabout way to speak, the image of an imaginary city emerges in the description of real life, engaging in a reversal of signs of this world and of the beyond. (Jean Roudant, Les villes imaginaires)

Mein Vater war ein Seemann. Teil einer Hochseeflotte, die überraschend groß ist für ein Binnenland, aber einer Nation nicht unangemessen, deren Streben nach neuen Ufern sie an die Spitze des weltweiten Segel- und Beachvolley-Rankings führte. Mein Vater ist kein allzu gesprächiger Mann. Was ich weiß über seine Jahre auf hoher See, setzt sich zusammen aus Bruchstücken, die Alter und Alkohol – die zwei großen Feinde der Matrosen in ihren reisenden Jahren – gelegentlich aus ihm hervorlocken.

Der Ruf der See erreichte ihn, so viel weiß ich mittlerweile, über Jack London und Ernest Hemingway, diese Schutzpatrone einer abenteuerlichen Männlichkeit, die selbst im gezeitenfernen Tal seiner und meiner Geburt verstanden werden. Er verschwendete keine Zeit und ließ sich unmittelbar nach einer Ausbildung zum Mechaniker einschiffen, die zu gleichen Teilen Zufall, Trotz und bewusst gewählte Landungsbrücke zu den ersehnten Reisen war. Die Ironie, dass der gewaltige Frachter, auf dem er angeheuert wurde, den Namen einer unbedeutenden Schweizer Kleinstadt trug, entging ihm vermutlich ebenso wenig, wie es seine Abenteuerlust gedämpft hätte.

Wie bei allen Geschichten vom Meer weiß niemand genau, was sich von alledem wirklich zugetragen hat, was ihnen umgekehrt eine Art unwiderlegbare Wahrheit verleiht.

Diese Eckdaten sind klar. Was aber passierte zwischen jenem Moment, als mein Vater zum ersten Mal seine Seemannsbeine testen musste, und jenem, als er wenige Jahre darauf für immer zurückkehrte, ist Gegenstand mehr von Gerüchten als Geschichten: ich glaube mich zu erinnern an die Erzählung von einem Baby-Elefanten, der dem Frachtraum entkam und quer durch ein frisch gestrichenes Deck stampfte, um für seine Verfolger kreisrunde Fußabdrücke zu hinterlassen. An eine Fahrt auf dem Jangtsekiang, einer epischen Zechtour in Shanghai entgegen, in dem es noch kaum eine Handvoll Hotels für Ausländer gab, aber einen Tätowierschuppen, dem mein Vater ein bleibendes Andenken an diese Jahre verdankt. An den Jungen, der meinen Vater in gebrochenem Englisch um Geld bittet und von ihm seinen gerade ausgezahlten Monatslohn erhält. (Eine weitere Geschichte mit einem bleibenden Zeugnis, in Form des Fotos eines jungen Afrikaners, auf dessen Rückseite handschriftlich das Ausmaß der Dankbarkeit vermerkt ist.)

An Geschichten von Stürmen, in deren Wellen das Schiff haushoch in die Luft gehoben und wieder auf die Meeresoberfläche geschleudert wurde, von fliegenden Fischen und um den Bug spielenden Delfinen. Von wenigstens einem Raubüberfall, der endete in einer Nacht im Gefängnis – für den Beraubten und nicht den Räuber. Und von jenem Landgang, der meinen Vater beinahe das Leben gekostet hätte, als die Gangway bei seiner Rückkehr heftig ins Schwanken geriet und er metertief in das brodelnde Wasser des Hafens stürzte. Wie bei allen Geschichten, die den Weg über das Meer zu uns gefunden haben, weiß niemand genau – und der Erzähler am allerwenigsten – was sich von alledem wirklich zugetragen hat, was ihnen umgekehrt eine Art unwiderlegbarer Wahrheit verleiht.

Ebenso wahr ist, dass mein Vater nach wenigen Jahren zurückkehrte. Einmal noch sollte ihn seine Fernsucht zu einem Abenteuer drängen (wohl nicht zufällig in der Wüste dieses Mal, in einem Land, in dem Alkohol verboten war), doch hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits eine Frau kennengelernt, mit der er sich bald darauf endgültig niederlassen würde, im Haus, in dem er aufgewachsen war. Die Schätze, die ihm geblieben sind von seinen Jahren auf hoher See, sind bescheiden: Schnitzereien von chinesischen Fischern, eine hüfthohe Vase, auf der das Guilin-Gebirge abgebildet ist; ein verbleichender Anker auf seinem Oberarm. Und diese Geschichten, die ich mehr zu schätzen weiß als er selbst. Vor allem aber: das unauslöschbare Wissen um die Bedeutung des Daheims.

Sunless Sea ist das erste Spiel, das diese Gaben wirklich zu würdigen weiß.

Es kann natürlich nicht erstaunen, dass ein Spiel über die Erkundung eines zwischen Erde und Hölle gelegenen Ozeans es versteht, dass Seemannsgarn nicht in Gold aufzuwiegen ist: Wer diese See nicht nur befahren, sondern erschaffen hat, hat den Seemann kennen lernen müssen in seiner Rolle als Urvater aller Erzählung und als leibhaftiger Beweis für eine Welt, die so verheißungsvoll wie unnahbar ist. Erstaunlich ist dennoch, wie vollständig und rückhaltlos Failbetter Games diese Rolle nicht nur bewundern, sondern sie auch zu spielen bereit sind.

Denn Sunless Sea ist zum einen, natürlich, ein Spiel voller Erzählungen, die im grenzenlosen Dunkeln auf ihre Entdeckung warten: Geschichten über Spinnen, die in den Geweben unserer Träume jagen, über Städte, deren Tage gemessen werden am Verwittern eines Baumes, über Köche, die bei Walfängern lernen, für ertrunkene Könige ein Bankett zu bereiten und über alle jemals versandten Briefe, die nie ihren Empfänger fanden. Failbetter Games erzählen diese Geschichten und unzählige mehr, wie alle großen Seefahrer von Sindbad bis Gulliver vor ihnen ihre Geschichten erzählten: Stück für unglaubliches Stück, mit trunkenem Charme und einem heiligem Furor, als müsse der Aberglaube nur groß genug sein, um die Zeiten zurückzuholen, in denen am Rande der Seekarte nichts als Drachen lauerten und auf der Rückseite der Welt Menschen, deren Zehen nach hinten zeigen.

Sunless Sea ist zum anderen aber nicht weniger auch ein Spiel über das Erzählen, in dem abenteuerliche Begegnungen ebenso gut eine Geschichte zurücklassen können wie eine Narbe, und in dem beides gleichermaßen tödlich ist. Es ist ein Spiel, in dem das eigene Kind verdorben werden muss mit Lügengeschichten, bis es selber dem Ruf der unterirdischen See erliegt, ein Spiel, in dem Erzählungen von sehnsuchtsvollen Erinnerungen oder dem Wallen der See wortwörtlich Gold wert sind.

Sunless Sea ist, mit anderen Worten, ein einziger, raunender Liebesbrief an die Macht des Erzählens. Das allein ist in seiner Konsequenz bemerkenswert genug. Noch bemerkenswerter ist aber, wie sehr diese Liebe bei aller Sehnsucht nach fernen Ufern immer auch den heimischen Gestaden gilt. Wo die Hingabe zur Geschichtenweberei Sunless Sea zunächst nur sympathisch macht, macht diese zweite Liebe das Spiel einzigartig in einem Medium, das alle Geschichten zu vergessen haben scheint, die abstammen von Odysseus‘ Verzicht auf die Unsterblichkeit für einen letzten Blick auf seine Heimat.

Wie kein anderes Spiel macht Sunless Sea den Wunsch nach Rückkehr nicht nur zum Thema, sondern schmerzlich spürbar. "Lose your mind. Eat your crew" lautet das oft zitiert Verkaufsversprechen, über dessen Einhaltung ein unerbittlicher Terror-Wert wacht, der erschreckend schnell anwächst, sobald die Spieler-Schaluppe die Nähe einer Küste verlassen muss. Schnell wird klar, dass die Angst, die die Crew zu verschlingen droht wie das Dunkel ihr Schiff, nichts anderes ist als die Furcht, die Heimat nie wiederzusehen. Tod ist nur ein anderes Wort für die missglückte Rückkehr. Es gibt in Sunless Sea eine Fülle von Möglichkeiten, den "Terrorwert" zu senken. Doch die meisten von ihnen sind nichts als Symptombekämpfung, Rückzugsgefechte auf dem unaufhaltsamen Sturz in den Irrsinn. Wirkliche Heilung verspricht allein der Fuß, der auf der Mole des Heimathafens aufsetzt und die Alpträume zurückdrängt in das Reich der bösen Erinnerungen.

Ausfahrt, navigieren am Rande des Wahnsinns, Rückkehr in die Heimat: dies ist der ewige Rhythmus von Sunless Sea. Eine Wiederholung, die manchmal zur Last zu fallen droht: Selbst die wunderbarsten Worte laufen Gefahr, in der ständigen und starren Repetition zwischen wiederkehrenden Misserfolgen und dem Abfahren der immergleichen Routen totgeschliffen zu werden. Doch es gibt zwei Sätze, auf die ich nicht verzichten möchte, so oft ich sie auch gelesen haben mag: "Home waters. Sailors dwadle at the rail, watching for the lights of London."

Der Moment, in dem diese Worte aufscheinen und mit ihnen die Last der törichten Entscheidungen von mir abfällt, die mein Schiff an die Grenzen des Untergangs und mein Crew an den Rand des Wahnsinns getrieben haben – er gehört zweifelsohne zu den schönsten, die dieses Medium in jüngster Zeit zu bieten hatte.

Vielleicht wäre es für Failbetter Games tatsächlich einfacher gewesen, eine weitere jener altbekannten Geschichten zu erzählen über eine unaufhaltsam vorwärts drängende Irr- und Entdeckungsfahrt mit einem klaren Anfangs- und Endpunkt. Vielleicht wäre es lukrativer und zugänglicher gewesen, wenn der Spieler nicht wieder und wieder ins Dunkel hinausgesendet würde in quälend langsam kreisenden Spiralen, in deren Zentrum immer und immer wieder die Heimat Fallen London steht

Vielleicht. Mit Sicherheit hätte all dies Sunless Sea aber zu einem ärmeres Spiel gemacht. Und zu einem, das der Wahrheit über das Leben auf See, von dem mein Vater mir manchmal erzählt, sehr viel weniger nahe gekommen wäre.