Spiel des Monats: Die schrägen Welten des Ed McMillen

"The Binding of Isaac" ist das erste "Spiel des Monats"  auf VGT. Grund genug, selbst in den digitalen Keller zu gehen und von dort gar Schröckliches ans Licht zu zerren. Der folgende Artikel, erschienen am 14.1.2012, war tatsächlich der dritte jemals auf dieser Seite erschienene Text. Bis auf wenige kleinere Kürzungen zu Ehren des ersten "SdM" erscheint er hier nochmals.

Ed McMillen ist so etwas wie das Enfant terrible der Indie-Games-Szene. Neben seinem überaus erfolgreichen Hardcore-Jump'n'Run Super Meat Boy ist der US-Amerikaner vor allem für seine bizarren Themen bekannt. Auch Super Meat Boy, der "kommerziellste" Titel , ist schon etwas abwegig; immerhin ist der Hauptprotagonist des niedlichen, aber hammerharten Reaktionsspiels mit millimetergenauen Sprungeinlagen ein rohes Stück Fleisch mit Kulleraugen, das bei seinen Sprüngen an Wänden und Boden Blutspuren hinterlässt. Als Grafiker, Designer und Animateur ist McMillen für abgedrehte Konzepte und Look zuständig, die Programmierung selbst ist meist in den Händen begabter Kollaborateure, unter anderem in jenen des Innsbruckers Florian Himsl.

The Binding of Isaac, gemeinsam mit seinem kürzlich erschienenen Remake "Rebirth", treibt ein seltsames Spiel mit der Bibel und handelt eigentlich von Kindesmissbrauch. Eine kindlich-groteske Fluchtfantasie mit fast unendlichem Wiederspielwert.

The Binding of Isaac, gemeinsam mit Florian Himsl veröffentlicht, erfüllt alle Erwartungen, die Freunde des abgründigen Humors an McMillens Spiele stellen. Das Intro erklärt die Bibelparaphrase, die auch den Titel des Spiels bereitstellt: Bekanntlich fordert Gott Abraham auf, seinen einzigen Sohn als Beweis seines Glaubens zu opfern; Abraham fesselt Isaak und will ihn gerade wie befohlen töten, als Gottes Engel ihn in letzter Sekunde davon abhält, mit der Begründung, Abraham habe seine Gottesfurcht damit eindeutig und zur Genüge unter Beweis gestellt.

McMillens Binding zeigt eine parallele Ausgangssituation, transferiert ins modern day America: Hier ist es Isaacs Mutter, die, inspiriert von Christian broadcasts on the television, plötzlich eine Stimme von oben hört: "Your son has become corrupted by sin; he needs to be saved. ... He needs to be cut off from all that is evil in this world and confess his sins." Nackt und seiner Spielsachen (darunter ein Gameboy!) entledigt, sperrt Isaacs Mutter ihn in seinem Zimmer ein, doch Gottes Stimme verlangt noch mehr: "Go into his room and end his life as an offering to me to prove you love me above all else!" Isaac kann in letzter Sekunde durch eine Falltür in die Kellergewölbe unter dem Haus fliehen, im Unterschied zu seinem biblischen Gegenpart bleibt ihm somit die zweifelhafte Rettung erspart. Es ist die Aufgabe des Spielers, Isaac immer tiefer unter die Erde zu führen, wo schließlich die Konfrontation mit der übermächtigen Mutter als Endgegner wartet. Psychologen hätten ihre helle Freude an dieser Parabel.

 

McMillen selbst nennt in einem Interview mit dem Blog Gaming Irresponsibly seine katholische Erziehung und verschiedene Medienberichte über Kindesmisshandlungen und -wegsperrungen als Inspiration für die doch untypische Hintergrundstory, vor allem der Fall Caylee Anthony und die Lektüre seiner Frau: "My wife got on a kick of reading morbid news and reading books on child captives kept in basements." - Die österreichischen Fälle Kampusch und Fritzl dürften dabei wohl auf der Leseliste gewesen sein. Trotz dieses düsteren Materials will McMillen dem Spiel aber selbst keine allzu ernsten Intentionen unterstellen: "... its all very dark, but dark humor."

McMillens dunkler Humor, aber auch seine ungesunde Faszination für das Ekelhafte ziehen sich durch das ganze Spiel. Der Comic-Look zeigt uns eine Welt aus Fliegen, Scheißehaufen und grauenhaften Albtraummonstern, die bizarren Waffen und Power-ups inkludieren Drahtkleiderbügel, Muttis BH oder die totgeborenen Geschwister. Die Geschmacklosigkeit als Programm bleibt nur durch McMillens naiv-heiteren Comic-Stil erträglich und beschreitet den schmalen Grat zwischen Ekel und morbider Faszination. The Binding of Isaac zeigt in gewisser Weise die Albtraumwelt eines misshandelten Kindes;  im Unterschied zu American McGee's Alice bleibt in Isaacs Welt allerdings kein Platz für Subtilitäten.

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In den kurzen Zwischensequenzen sieht man Isaac zitternd am Boden liegen, während er von seinen banalen Allerweltsängsten träumt: auf dem Spielplatz die Hose heruntergezogen zu bekommen, auf dem Klo zu spät das fehlende Klopaper zu bemerken oder einfach die alltägliche Zurückweisung durch die Mutter. Albträume und reales Leben haben ihren Platz vertauscht. Auch die variablen Enden legen in ihrer Mehrdeutigkeit Interpretationsansätze nahe, die an diverse Kunststücke David Lynchs erinnern: Nach dem zehnten Durchspielen mit jeweils marginal anderen Enden legt Ende Nummer 11 eine banale Wahrheit oben drauf, die so realistisch wie deprimierend ist. Wer mag, kann sich hier auf YouTube einen der böseren narrativen Kunstgriffe des Mediums ansehen, ohne das Spiel selbst durchgespielt zu haben.

Gräbt man im Medium Film nach Werken, die Ähnliches zum Inhalt haben, muss einem unweigerlich Tideland (2005)  in die Hände fallen, Terry Gilliams düsterer Blick in die Welt eines ebenso vom Tod umgebenen Kindes: Auch hier verarbeitet das kleine Mädchen ihre grauenhafte SItuation - die Mutter tot, der an einer Überdosis verstorbene Vater (Jeff Bridges) als verwesender Leichnam im Schaukelstuhl - durch die Verlagerung ihrer Konflikte in eine makaber-bizarre Traumwelt. Auch Gilliam, als Mitglied und Animateur der Monty Pythons für Geschmacklosigkeit und schwarzen Humor berühmt, zeigt die düstere Lebenswelt als verstörend naiv-rohes Miteinander von Tod und Leben und das kindliche Spiel als Bewältigungsstrategie.

172Tideland (2005), Regie: Terry Gilliam

Zum Glück wirkt The Binding of Isaac trotz dieser geballten Ladung an ödipalen, christlichen und neurotischen Motiven aber als Spiel nicht trostlos oder bedrückend - ein Kunststück, das Tideland nur bedingt glückt. Auf geschickte Weise verwendet McMillen Elemente aus klassischen Rogue-likes, die Wiederspielbarkeit und Motivation sicherstellen: Speichern gibt's nicht, bei jedem Bildschirmtod steht man wieder ganz am Anfang. Durch die zufällige Neugenerierung der Räume und Power-ups, die zu finden sind, spielt sich dafür jede Partie ganz anders. Die Twin-Stick-Shooter-Mechanik ist solide, aber unbarmherzig, immer neue Kombinationen aus Waffen, Gegenständen und Räumen motivieren trotz beachtlichem Schwierigkeitsgrad immer wieder, in Isaacs verstörende Traumwelt einzutauchen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Edmund McMillen produziert keine "Art Games", wenn damit, wie im Fall von Jason Rohrer oder Tale of Tales, die mehr oder weniger poetisch-abstrakte Umkreisung eines Themas im Medium Games gemeint ist. Tale of Tales' The Path etwa streift durchaus ähnliche Themen - kindliche Fantasiewelten, Kindesmissbrauch, Coming-of-Age -, verzichtet aber in seinem Ansatz vielleicht etwas zu sehr darauf, tatsächlich ein Spiel zu sein.

The Binding of Isaac im Gegensatz ist bei allem Überbau, bei aller Möglichkeit zur Auslegung und bei aller künstlerischen Konsequenz aber genau wie Super Meat Boy ein Vollblut-Spiel (auch) für die Hardcore-Zielgruppe, mit Oberbossen, Geheimräumen, freispielbaren Gegenständen und einem eigenen Strategie-Wiki; es ist zuallererst ein Spiel und legt seine Themen mit den Mitteln des Mediums aus. Genau das macht die Arbeiten McMillens auch so interessant - vorausgesetzt, man ist provokationsresistent und hat Spaß am kalkuliert schlechten Geschmack.

Für das "Spiel des Monats" widmen sich die Autoren von VideoGameTourism eine Woche lang einem einzigen Spiel.

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